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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Schlafbedürfnis hatte bestimmen lassen, dazu noch von einem, das er selbst hervorgerufen hatte. Die Tabletten, sie haben es entschieden. Er war nicht sicher, ob das nicht am Ende noch schlimmer war, als wenn es sich um eine unbewußte, aber immerhin echte Entscheidung für den Betrug gehandelt hätte. Denn das, was ihm jetzt, in seinem blinden Gehen, als die Wahrheit vorkam, bedeutete nichts weniger, als daß er sich in jenem unseligen Moment als Entscheidender, als Subjekt seines Tuns, abhanden gekommen war.
     
    Daß er in Portofino angekommen war, kam Perlmann erst zu Bewußtsein, als er sich auf dem Platz befand, wo die Busse für die Rückfahrt wendeten. Es machte ihn ratlos, daß er jetzt hier war, er hatte in diesem Portofino, wo es wie in einer Sackgasse nicht mehr weiterging, nicht das geringste verloren. Er wollte vor allem in Bewegung bleiben, um die innere Not in Schach zu halten, er fürchtete sich davor, zum Stillstand zu kommen und den quälenden Empfindungen ohne Gegenwehr ausgeliefert zu sein. Er nahm die Gasse, durch welche die Touristen in der Saison hinunter zum Wasser strömen würden. Zu dieser Jahreszeit waren die meisten Geschäfte geschlossen. Das strahlende Wetter und der tote Eindruck, den der Ort machte, paßten nicht zueinander. Auch die meisten Lokale um den kleinen Jachthafen herum waren geschlossen. Beim letzten Cafe vorne auf dem Kai setzte er sich an einen Bistrotisch und bestellte bei einem alten, mürrischen Kellner, der ihn nicht anblickte, Kaffee und Zigaretten.
    Es war der erste Kaffee an diesem Morgen, und er schüttete gierig zwei Tassen in sich hinein. Wieder spürte er den Magen und würgte zwei vertrocknete Brötchen hinunter, die er drinnen an der Theke geholt hatte. Mit geschlossenen Augen lauschte er dem leisen Geräusch der Boote, wenn sie sanft aneinanderstießen. Für ein paar Minuten, in einem Zustand zwischen Halbschlaf und willkürlicher Tätigkeit der Einbildungskraft, gelang ihm die Illusion, im Urlaub zu sein: ein Mann, der es sich leisten konnte, an einem schönen Novembermorgen im berühmten Portofino Kaffee zu trinken, ungebunden, ein freier Mann, der verreisen konnte, während die anderen arbeiten mußten, einer, der es sich aussuchen konnte und niemandem Rechenschaft schuldig war. Doch dann überfiel ihn wieder das Bewußtsein seiner wirklichen Lage. Er war ein Betrüger, unentdeckt zwar, aber ein Betrüger. Und nun kam ihm dieses Portofino wie eine Falle vor.
    Er hielt es nicht mehr aus, rief nach dem Kellner, suchte ihn vergeblich in der leeren Bar, legte dann, weil er nichts Kleineres fand, einen viel zu großen Geldschein neben die Tasse und ging rasch zurück zur Hauptgasse. Beim Fahrer des wartenden Busses, der draußen stand und rauchte, löste er eine Fahrkarte und stieg hinten ein. Er blieb der einzige Fahrgast. Als der Fahrer die Zigarette austrat und sich ans Steuer setzte, sprang Perlmann im letzten Moment hinaus. Der Fahrer blickte ihm im Rückspiegel verwundert nach und fuhr ab.
    Er wollte nicht zurück, und er wollte schlafen. Er war versucht, sich einfach auf die Bank bei der Haltestelle zu legen, aber das war zu öffentlich. Ein Hotel. Er zählte sein Geld. Es würde, wenn überhaupt, nur für ein ganz billiges Zimmer reichen. Er war erleichtert, für den Augenblick ein Ziel zu haben, und ging durch die engen Gassen des Orts. Viele Hotels hatten für den Winter geschlossen, und von den offenen hatten selbst Klitschen von schäbigstem Aussehen Preise, für die sein Geld nicht reichte.
    Schließlich fand er in einem Albergo, das auf eine enge Gasse mit lauter Mülltonnen hinausging, ein Zimmer. Der Wirt, ein untersetzter, dicker Mann mit Schnurrbart und Hosenträgern, musterte ihn mit mißtrauischem und verächtlichem Blick, einen Mann ohne Gepäck und mit wenig Geld, der morgens um halb zwölf ein Zimmer wollte. Perlmann mußte feilschen, er wolle das Zimmer ja nur für ein paar Stunden, gut, bis fünf Uhr, dafür Preisnachlaß, Barzahlung im voraus.
    Er entfernte die schmuddelige Tagesdecke und legte sich aufs Bett, die Hände unter dem Kopf verschränkt. Die Decke, deren Putz bröckelte, war voll von gelben und braunen Wasserflecken, in den Ecken hatten sich Spinnweben gebildet, und in der Mitte hing eine häßliche Lampe aus gelblichem Kunststoff, der Bernstein vortäuschen sollte.
    Notwehr, dachte er: Konnte man das, was er getan hatte, nicht als eine Art Notwehr auffassen? Ihm war, ohne daß er etwas dafür konnte, seine Wissenschaft

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