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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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nicht, wie ein Schuldiger, zu früh abzuwenden.
    Aber insgesamt war es leichter, als er erwartet hatte, und nach einer scherzhaften Bemerkung von Laura Sand über seine lange Abwesenheit kam wieder ein Gespräch in Gang. Die Alltäglichkeit des Besprochenen gab ihm das Gefühl, mit seinem gefährlichen Geheimnis in Sicherheit zu sein; aber sie führte ihm auch vor Augen, wie allein er mit dem Erlebnisdrama der letzten Tage blieb und mit wieviel Empfindung des Ausgeschlossenseins er für das Unentdecktbleiben seines Betrugs noch würde bezahlen müssen.
    Niemand sagte ein Wort über den Text, den sie von ihm bekommen hatten. Er brauchte keine einzige der Reaktionen abzurufen, die er sich auf der Hafenmole von Portofino und später im Bus zurechtgelegt hatte. Es war verrückt, aber es ließ sich nicht leugnen, daß ihn das, wenngleich er froh darüber war, irgendwie auch kränkte. Derart peinlich berührt mußten sie von Leskovs Text nun auch wieder nicht sein. Am meisten verletzte ihn – und wieder war er sich der Absurdität seiner Empfindung bewußt-, daß auch Evelyn Mistral neben ihm nicht eine einzige Bemerkung über den Text machte, in dem es doch viele Berührungspunkte mit ihrem eigenen Thema gab. Als sich ihre Blicke trafen, konnte er keine Mißbilligung erkennen, aber ihr Lächeln war matter als sonst, scheu, als fürchte sie, ihn zu verletzen.
    Während des Hauptgangs, den er, den Blick auf den Teller gerichtet, mechanisch in sich hineinschaufelte, verteidigte er Leskovs Text in Gedanken. Er versuchte sich als besonders strenger Leser und als spöttischer Kritiker. Aber auch dann, dachte er, konnte man die Substanz und Originalität dieses Entwurfs nicht übersehen, und als der Nachtisch kam, hatte er sich so weit in die Verteidigung des Texts verbissen, daß er es fast bedauerte, mit der öffentlichen Verteidigung bis Montag morgen warten zu müssen. Ein kaum merklicher Schwindel und eine Hitze im Gesicht warnten ihn davor, sich weiter in diese Richtung treiben zu lassen. Dann ging seine wütende Verbissenheit aber doch mit ihm durch, er zündete eine Zigarette an und wandte sich an Evelyn Mistral, um sie auf den Text anzusprechen.
    In diesem Augenblick erschien in seinem Blickfeld der schwarze Arm des Kellners mit einem silbernen Tablett, auf dem ein Telegramm lag.
    «Für Sie, Dottore», sagte der Kellner, als ihm Perlmann den Kopf zuwandte,«es ist soeben gebracht worden. »
    Kirsten, schoß es ihm durch den Kopf, Kirsten ist verunglückt, und dieser Gedanke füllte ihn mit einem Schlag so vollständig aus, daß alles, was ihn in den letzten Tagen und Stunden beschäftigt und gequält hatte, wie ausgelöscht war. Mit zittrigen Fingern riß er das Telegramm auf und entfaltete den Bogen. Er erfaßte den Text mit einem einzigen Blick: Ankunft Montag Genua 15.05 Alitalia 00423. Dankbar wenn abgeholt. Vasilij Leskov.
    Für ein, zwei Sekunden verstand er nicht. Zu unerwartet war die Botschaft und zu weit weg von dem Gedanken an Kirsten, der eben noch alles andere weggewischt hatte. Dann, als die Bedeutung der Wörter auf dem geklebten weißen Streifen in sein Bewußtsein einsikkerte, wurde die Welt um ihn herum farblos und still, und die Zeit gefror. Alle Kraft wich aus ihm, und er spürte das Gewicht seines Körpers wie noch nie zuvor. So also fühlt es sich an, wenn alles zu Ende ist, dachte er, und nach einer Weile bildete sich in seinem hohlen, dumpfen Innern noch ein weiterer Gedanke: Darauf warte ich seit Jahren.
    Er mußte lange regungslos dagesessen haben, denn als Evelyn Mistral ihm nun einen Aschenbecher unter die Hand schob und er aufblickte, sah er, wie ein langes Stück weißer Asche von der Zigarette abfiel. Sie sah ihn mit einem unsicheren, besorgten Blick an, als sie auf das Telegramm deutete und fragte:
    «Schlechte Nachrichten?»
    Einen Moment lang war Perlmann versucht, dem offenen, klaren Gesicht und der hellen, warmen Stimme alles zu erzählen, ohne Rücksicht auf die Folgen. Und wenn sie ihn, als sie ihm den Aschenbecher zuschob, mit der Hand berührt hätte, dachte er später, so wäre das auch tatsächlich geschehen. So unerträglich war das Gefühl der Isolation, das sich wie ein eiskaltes Gift in ihm ausbreitete.
    Doch dann sah er, zum erstenmal, seit der Kellner ihm das silberne Tablett hingestreckt hatte, die Blicke der anderen. Es waren keine mißtrauischen Blicke, keine Blicke, die einen Verdacht ausdrückten. Eher waren es verhaltene Blicke, in denen ein bißchen Neugierde zu

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