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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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erkennen war. Keine unfreundlichen Blicke, im Gegenteil, selbst in Millars Augen schien die Bereitschaft zur Anteilnahme zu liegen. Trotzdem waren es Blicke, die in der Stille am Tisch alle auf ihn gerichtet waren wie vorhin im kreuzenden Bus. Perlmann spürte, wie Übelkeit in ihm aufstieg, er erhob sich, stopfte das Telegramm in die Jackentasche und lief hinaus, quer durch die Halle auf die Toilette, wo er sich einschloß und sich in schnellen, heftigen Krämpfen übergab.
    Als das Würgen verebbte und ihm nur noch Rinnsale brennender Magensäure aus Mund und Nase liefen, ging er hinaus zu den Waschbecken, spülte den Mund aus und wusch sich mit dem Taschentuch das Gesicht. Die teuren Waschbecken aus glänzendem Marmor, die modischen, auf antik gemachten Armaturen aus blitzendem Messing und die riesige Spiegelwand waren in diesem Moment unerträglich. Er vermied es, sich ins Gesicht zu sehen, und schloß sich erneut in einer Kabine ein, um nachzudenken.
    An den Tisch zurückzukehren war unmöglich. Es sah für die anderen zwar merkwürdig aus und grenzte an eine Unverschämtheit, wenn er nach seinem abrupten Weggang überhaupt nicht mehr wiederkam. Es würden die verschiedensten Mutmaßungen über den anscheinend dramatischen Inhalt des Telegramms entstehen. Aber das spielte jetzt, wo eine vollständige soziale Ächtung bevorstand, keine Rolle mehr. Unangenehm war nur – und Perlmann spürte am Rande des Bewußtseins ein Erstaunen darüber, daß ihn das in einem solchen Moment zu beschäftigen vermochte -, daß seine Zigaretten und das rote Feuerzeug, das ihm Kirsten im Zug geschenkt hatte, noch drüben auf dem Tisch lagen.
    Jenseits dieser banalen Überlegungen ging es in seinem Kopf nicht weiter. Es gab da eine undurchdringliche Wand aus ungefährem Grau und eine eigentümliche Kraftlosigkeit. Noch nie in seinem gesamten Leben war es wichtiger gewesen, klar zu denken und zu planen. Aber er stand vor dieser Aufgabe wie einer, der mit solchen geistigen Tätigkeiten noch nie in Berührung gekommen war; wie einer, der nicht einmal das Abc eines Planens beherrschte, das über den nächsten Augenblick hinausreichte. Körper und Gefühl hatten sofort reagiert; das Denken dagegen war zähflüssig und kam nicht vom Fleck. Er fühlte, wie hart es sich auf dem Klosettdeckel saß, er starrte auf die weiße Tür vor der Nase und registrierte, daß es daran keine Graffiti gab. Er spürte den brennenden Nachgeschmack des Erbrechens am Gaumen und knüllte das nasse Taschentuch in der Faust zusammen. Als zwei Männer hereinkamen, die sich am Pissoir weiter auf italienisch unterhielten, atmete er unwillkürlich ganz flach und rührte sich nicht. Nur einen einzigen Gedanken vermochte er zu fassen, und der wiederholte sich in immer kürzeren Abständen, wie ein sich beschleunigendes Echo: Anderthalb Tage. Es bleiben mir anderthalb Tage.

28
     
    Als die beiden Männer gegangen waren, verließ er die Kabine, vergewisserte sich durch den Türspalt, daß keiner der Kollegen in der Halle war, und ging schnell hinauf ins Zimmer. Auf dem Bettrand sitzend las er das zerknitterte Telegramm noch einmal. Leskov hatte es, das sah er jetzt auf dem weißen Streifen rechts oben, bereits gestern nachmittag kurz vor vier in St. Petersburg aufgegeben. Die sonstigen Angaben, abgefaßt in einem Code, wurden ihm nicht ganz klar. Aber offenbar war die Botschaft über Mailand und Genua nach St. Margherita weitergeleitet worden und war kurz nach halb acht eingetroffen. Wenn die telegrafische Verbindung schneller gewesen wäre und man mir das Telegramm gebracht hätte, bevor Signora Morelli heute früh mit dem Kopieren begann, so wäre ich nicht zum Betrüger geworden und stünde jetzt nicht vor der beruflichen Ver nichtung. Er sah noch einmal genau hin: Drei Minuten vor vier war es, als die Botschaft in St. Petersburg abgeschickt worden war. Viertel nach drei hätte sein Schiff in Genua abfahren sollen, es war dann aber fast halb vier geworden. Drei Minuten vor vier – da hatte bereits das Gewitter getobt. Da stand es schon fest, daß er kommen würde. Es stand schon fest. Es war bereits eine Tatsache.
    Daß Leskov durch die verweigerte Ausreisegenehmigung und die Krankheit seiner Mutter in St. Petersburg festgenagelt war, das war in all seinen Überlegungen ein Axiom gewesen. Daß es zwei voneinander unabhängige Hindernisse gab, hatte den Eindruck der Unüberwindlichkeit entstehen lassen, so daß er die Möglichkeit von Leskovs Erscheinen mit keinem

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