Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
abhanden gekommen, mit der er sich Achtung und eine soziale Position erworben hatte, und nun war er von den Erwartungen der anderen, die immer neue Leistungen einklagten und mit dem Entzug der Achtung drohten, an die Wand gedrängt worden und hatte sich verteidigen müssen. Und da hatte er sich nicht mehr anders zu helfen gewußt als durch Leskovs Text. Man konnte das durchaus als eine Verteidigung des eigenen Lebens auffassen. Es war nicht leichtfertig geschehen oder um eines billigen Vorteils willen, sondern einzig und allein, um etwas abzuwenden, was seiner beruflichen und letztlich auch persönlichen Vernichtung gleichgekommen wäre. Notwehr eben.
Gut, dem Buchstaben nach mußte man den Sachverhalt vielleicht wirklich als Plagiat bezeichnen. Die anderen hielten in diesem Augenblick einen Text in der Hand, den sie, auch wenn sein Name nicht draufstand, für seinen eigenen Text halten mußten, obwohl er ihn nur übersetzt und nicht selbst verfaßt hatte. Aber diese Betrachtungsweise war im Grunde oberflächlich und wurde dem wirklichen Vorgang nicht gerecht. Denn er hatte den Text ja nicht einfach so übersetzt, ohne innere Beteiligung und intellektuelle Auseinandersetzung, wie ein professioneller Übersetzer in einer Agentur das gemacht hätte. Stück für Stück hatte er sich Leskovs Gedankengang durch den Kopf gehen lassen, er hatte ihn immer von neuem an Beispielen aus dem eigenen Erinnern gemessen, und schließlich hatte er, um nur dies zu nennen, viele Stunden, eigentlich sogar ganze Tage auf den Versuch verwendet, Leskovs lückenhafte Überlegungen zu einer stimmigen Theorie der Aneignung zusammenzufügen. Man konnte also wirklich nicht sagen, daß der verteilte Text überhaupt nichts enthielt, was seinen eigenen Gedanken entsprungen wäre.
Und das war nicht alles, es war nicht einmal das Entscheidende, dachte er. Es gab noch etwas anderes, was es als ungerecht und geradewegs falsch erscheinen ließ, von Gedankendiebstahl zu sprechen. Es war die Tatsache, daß er jeweils sofort, nachdem die sprachlichen Probleme aus dem Weg geräumt waren, Leskovs Gedanken als seine eigenen wiedererkannt hatte. Perlmann sah Millars Gesicht mit der blitzenden Brille vor sich, als er dies dachte, und er hörte seine höhnische Stimme; keine Worte, nur den höhnischen Tonfall. Das Gesicht und die Stimme kamen immer näher, bedrängten ihn, drohten ihn zu erdrücken, er mußte sich wehren, richtete sich auf, setzte sich auf die Bettkante und zündete eine Zigarette an. So etwas konnte man niemandem beweisen, und man würde es deshalb niemandem gegenüber je äußern können, ohne sich lächerlich zu machen. Aber es war trotzdem so: Leskov beschrieb Erfahrungen mit Sprache und Erinnerung, die er alle selbst auch schon gemacht hatte, und die gedankliche Übersicht, die ihm gelang, war so, daß Perlmann bei jedem einzelnen Schritt erneut den Eindruck gehabt hatte: Genau das habe ich auch schon oft gedacht, wirklich genau dasselbe. Zugegeben, er hatte sich nicht hingesetzt und es aufgeschrieben, die entsprechenden Sätze aus seiner Feder gab es nicht. Aber er hätte es durchaus tun können. Er sah sich an seinem Frankfurter Schreibtisch, wie er, Wort für Wort, den Text schrieb, mit dem ihm Leskov, gewissermaßen durch Zufall, zuvorgekommen war. Es konnte wirklich überhaupt keine Rede davon sein, daß er Gedanken als die seinen ausgegeben hatte, die ihm fremd waren.
Er trat an das schmale Fenster und fuhr zusammen. Auf der anderen Seite der engen Gasse, seinem Fenster genau gegenüber und nicht mehr als zwei, drei Armlängen entfernt, lehnte eine alte Frau mit schwarzem Kopftuch und zahnlosem Mund aus dem Fenster und grinste ihn aus einem verrunzelten Gesicht mit vorgeschobenem Kinn an. Neben ihr auf der Fensterbank kauerte eine magere Katze, bei der die Trennlinie zwischen rötlichem und weißem Fell schräg über das ganze Gesicht verlief, was ihr einen häßlichen und bösartigen Ausdruck verlieh. Perlmann zog rasch die schweren, speckigen Vorhänge zu und legte sich erneut aufs Bett. Der Hauch von Selbstachtung, den er durch den inneren Monolog von vorhin hatte zurückgewinnen können, war durch den Anblick der alten Frau und der Katze, die ihm jetzt wie lauernde, bedrohliche Fratzen vorkamen, wieder zerstört worden. Er kam sich erneut wie ein billiger Betrüger vor, der in einem schäbigen, dunklen Hotelzimmer in einem verkitschten, verlassenen Touristenkaff lag.
Erst nach und nach fand er wieder in die beiden
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