Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
waschen, empfand er die kalte, verzweifelte Stärke eines Menschen, der soeben alle Brücken hinter sich abgebrochen hat. Er zündete eine Zigarette an, und mit einemmal war er imstande, klar und methodisch über seine Lage nachzudenken. Das Bild seines Kopfes, der auf dem Marmor aufschlug, zersplitterte und zu Brei zerquetscht wurde, verbannte er aus dem Bewußtsein, als er nun, dieses Mal kühler und mit Übersicht, noch einmal erwog, seinem Leben ein Ende zu setzen.
Wie würde eine solche Tat für die anderen aussehen? Von Montag abend an, wenn die Wahrheit ans Licht kam, nachdem Leskov den verteilten Text zu Gesicht bekommen hatte, wäre er für die anderen einfach ein feiger Betrüger, der nicht den Mut aufgebracht hatte, sich zu stellen. Er hätte keine Möglichkeit mehr, etwas zu erklären, auf seine Not hinzuweisen und dem einen oder anderen, vielleicht sogar Leskov selbst, seine Erfahrung zu schildern, daß der Text so viele Gedanken enthielt, die auch seine eigenen waren, daß es in gewissem Sinne auch sein Text war. Sein Handeln erführe die einfachste, oberflächlichste Deutung, und er wäre nicht mehr da, um bei denjenigen, an welchen ihm gelegen war, eine Differenzierung und Milderung des Urteils zu erwirken. Niemand würde sich die Mühe machen, dem nachzugehen, aber es würde der Verdacht laut werden, daß Philipp Perlmann, der Preisträger mit der Einladung nach Princeton, möglicherweise auch schon bei früheren Gelegenheiten abgeschrieben hatte, wenn vielleicht auch nicht so unverfroren wie dieses Mal.
Perlmann versuchte sich auf den Standpunkt zu stellen, daß ihm dies alles vollkommen gleichgültig sein konnte: Solange er noch da war und etwas erlebte, war es noch nicht soweit; und wenn es einmal soweit war, wäre da niemand mehr, der es erleben und erdulden müßte. Es war verwirrend, daß er in dieser Überlegung keinen Denkfehler zu entdecken vermochte, daß sie ihm aber ungeachtet ihrer Einfachheit und Durchsichtigkeit trügerisch, geradezu heimtückisch vorkam und ihn so wenig zu überzeugen vermochte, daß sie ihm sofort wieder entglitt, sobald er sie nicht mehr in einem besonderen Akt der Konzentration festhielt.
Bei einigen ließ sich der Gedanke ertragen, daß sie ihn von nun an einfach für einen dreisten Hochstapler, einen billigen Betrüger halten würden. Angelinis Meinung etwa ließ ihn kalt. Und auch bei Ruge war es ihm eigentlich ziemlich gleichgültig, dachte er mit einem gewissen Erstaunen. Wiewohl er ihn inzwischen auch ein bißchen mochte, hatte er ihn doch vier Wochen lang gefürchtet, den biederen Mann mit dem glucksenden Lachen, aus dem er stets eine gefährliche Rechtschaffenheit hatte heraushören müssen, oft gegen besseres Wissen. Doch jetzt, wo ihn die Furcht hätte überwältigen müssen, war ihm der große, kahle Kopf mit den wäßrig grauen Augen hinter der kaputten Brille nur noch fremd und fern und ging ihn nichts an. Daß er Laura Sands schöne Bilder des Leids verteidigt hatte, änderte daran kaum etwas.
Schon schwieriger war es bei Adrian von Levetzov, den er in all seiner Geziertheit schätzengelernt hatte. Er würde nach außen hin im Chor der Entrüsteten mitsingen; das war das Spiel. Aber Perlmann hoffte und hielt es für möglich, daß er ihm insgeheim ein gewisses Verständnis entgegenbrächte und eine gewisse Sympathie. Wie hatten die Worte gelautet, die er am Ende jener Sitzung zu Millar gesagt hatte? Ich könnte mir denken, daß es ihm darum ganz und gar nicht geht. Noch einmal sah Perlmann den großgewachsenen Mann vor sich, wie er die Veranda in jener sonderbaren Haltung verlassen hatte. Nein, gleichgültig war ihm sein Urteil nicht.
Giorgio Silvestri, da war er sich ziemlich sicher, würde ihn nicht verurteilen, und er traute ihm zu, daß er eine Ahnung von seiner Not hätte. Laura Sand. Auf ihre ironische, abwehrende Art mochte sie ihn. Und es hatte den Nachmittag der vielen Farben gegeben. Wenn sein Eindruck zutraf, daß sie ihn sehr schnell durchschaut hatte, dann wäre sie nicht allzu überrascht und nähme die Nachricht als etwas auf, was sich mühelos in ihr düsteres Bild vom menschlichen Zusammenleben einfügte. Weit davon entfernt, über ihn zu richten, wäre sie ärgerlich, daß er der albernen akademischen Welt eine derartige Macht über sich eingeräumt hatte.
Schlimm wäre Evelyn Mistral. Er dachte zurück an die Male, wo sie sich empört über spanische Kollegen geäußert hatte, die nicht seriös arbeiteten, und stets sah er sie
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