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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Gedanken auch nur gestreift hatte. Und nun hatte sich Leskov durch irgendeine unerwartete Verkettung von Umständen doch freimachen können, und alles stürzte ein. Dabei hatte seine briefliche Auskunft so endgültig, so unverrückbar geklungen.
    Perlmanns entleerter Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Er ging ins Bad und trank langsam ein Glas lauwarmes Wasser. Dabei fiel sein Blick auf die Packung mit den Schlaftabletten. Er wußte genau, wie viele noch übrig waren. Trotzdem nahm er die Schachtel mit zum roten Sessel und zählte nach: sieben. Das reicht nicht, auch nicht mit Alkohol. Wenn der Arzt neulich nicht im Urlaub gewesen wäre, hätte ich jetzt genügend davon und könnte es machen. Er ging zum Fenster, öffnete es und blieb, wie sonst auch, zwei Schritte hinter der Brüstung stehen. Langsam und tief atmete er die kühle Nachtluft ein und spürte, wie der Magenkrampf allmählich nachließ, während ein leichter Schwindel einsetzte. Er hörte, wie unten Autos vorfuhren, Stimmen, die sich vom Eingang weg über die Terrasse zur Treppe hin bewegten, Lachen, die Samstagabendgäste von außerhalb fuhren ab.
    Er machte zwei Schritte, hielt sich mit beiden Händen an der Brüstung fest und blickte an der Hauswand hinunter. Die einzige Fensterreihe ohne das Hindernis eines Balkons. Er würde auf weißbraunem Marmor aufschlagen. Natürlich würde er es nicht jetzt tun, sondern erst nach Mitternacht oder in den frühen Morgenstunden, wenn alles schlief. Um sicherzugehen, müßte er kopfüber springen, und es würde drei oder vier endlose, grauenvolle Sekunden dauern, bis der Kopf den Stein berührte. Er schloß das Fenster und lehnte sich mit dem Kopf gegen die Hände, die den Fenstergriff umklammert hielten. Einen Moment lang wurde ihm schwarz vor den Augen.
    Als er sich wieder aufrichtete, klopfte es an der Tür. Der Gedanke, jetzt mit jemandem reden zu müssen, und seien es auch nur wenige Worte unter der Tür, versetzte ihn in Panik. Derart ausgeliefert und schutzlos war er sich noch nie vorgekommen. Er hatte der Gegenwart eines anderen in diesem Augenblick nichts entgegenzusetzen, und allein schon diese Gegenwart, so kam es ihm vor, würde ihn erdrükken. Und gleichwohl war er auch froh über das Klopfen, das ihn aus der eisigen Einsamkeit der letzten Minuten erlöste. Auf halbem Weg zur Tür drehte er um und holte die Packung mit den Schlaftabletten, die er im Bad mit kalten Fingern in den Toilettenbeutel stopfte, bevor er die Tür öffnete.
    Es war Evelyn Mistral, die ihm seine Zigaretten und das rote Feuerzeug brachte.
    «Wir haben uns Sorgen gemacht, als du nicht wiederkamst», sagte sie mit einem unsicheren, forschenden Blick.«Hast du eine schlimme Nachricht erhalten?»Dann verengten sich ihre Augen ein bißchen, und sie fügte leiser hinzu:«Du bist ja leichenblaß.»
    Er blickte auf ihr strohiges Haar, ihr ovales Gesicht, dessen Teint in der schwachen Beleuchtung des Flurs noch dunkler erschien als sonst, und auf das verrutschte T-Shirt, das sie unter der rohseidenen Jacke mit den breiten Schultern trug. Die Versuchung, sie hereinzubitten und ihr in der Intimität seines Zimmers, fern von den Blicken der anderen, alles zu gestehen, war übermächtig und körperlich spürbar wie eine Welle, die über ihm zusammenschlug. Er neigte den Kopf und preßte eine Hand gegen die Stirn, direkt oberhalb der geschlossenen Augen.
    «Everything is all right», sagte er, als er sie wieder ansah.
    Er sah sofort, daß ihr Gesicht einen verlegenen und verletzten Ausdruck annahm. Es war das erste Mal seit ihrem ersten Gespräch am Schwimmbecken, daß er die besondere Intimität des Spanischen, das sie unter vier Augen stets gesprochen hatten, verweigerte. Und wenngleich er sie gar nicht direkt angesprochen hatte, war es doch, als habe er damit auch die Nähe und den Zauber zerstört, den ihr spanisches tú für ihn gehabt hatte. Es tat weh wie ein Abschied, und in den Schmerz mischte sich die Verzweiflung darüber, daß er ihr nie würde erklären können, daß es aus dem hilflosen Versuch heraus geschah, sich zu schützen.
    «Und danke», sagte er und deutete auf die Zigaretten, während er nach der Tür griff.
    «Ja, also, gute Nacht dann», sagte sie leise auf englisch und ging davon, ohne ihn noch einmal anzublicken. Perlmann warf sich aufs Bett, vergrub den Kopf im Kissen, und nach einer Weile verfiel er in ein langsames, trockenes Schluchzen.
    Als er sich wieder aufrichtete und ins Bad ging, um das Gesicht zu

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