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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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ohnmächtig spürte er, wie sie seinen Widerstand jeden Moment brechen konnten.
    Er schaltete das Fernsehen ein. Auf den meisten Kanälen liefen Spielfilme, aber er wollte sich jetzt nicht mit erfundenen Geschichten, Konflikten und Gefühlen beschäftigen. Auch bei Talkshows schaltete er sofort weiter; noch nie waren ihm die Ansichten fremder Leute so gleichgültig gewesen. Endlich fand er eine Nachrichtensendung. Das war es, was er jetzt brauchte: objektive, wirkliche Geschehnisse, Ausschnitte der Welt, in denen etwas Wichtiges, etwas von wirklicher Bedeutung geschah, am besten dramatische Ereignisse, die ihm, weil sie in ihrer Tragweite weit über ein individuelles Leben hinausgingen, helfen konnten, den Kerker seiner eigenen, ganz auf ihn selbst bezogenen Gedankenwelt zu sprengen. Jede Nachricht sollte wie ein Steg sein, auf dem er in die wirkliche Welt hinausgelangen konnte, in der sich der Alptraum, der ihn in diesem Zimmer gefangenhielt, verflüchtigen und als bloßer Spuk entpuppen würde. Er starrte auf die Bilder, bis ihm die Augen tränten, er wollte sich ganz in den Geschehnissen dort draußen verlieren, je weiter entfernt der Schauplatz einer Nachricht war, desto leichter dünkte es ihn, sich in ihr von sich selbst zu entfernen. Er beneidete die Menschen, über die berichtet wurde, sie waren nicht er, und mit einem Gefühl der Scham, das er nicht näher untersuchen wollte, merkte er, daß er diejenigen von ihnen, über die eine Katastrophe hereingebrochen war, um ihr handfestes Unglück besonders beneidete. Selbst mit den Soldaten, die verwundet auf einer Bahre lagen, hätte er tauschen mögen.
    Er stellte den Ton ab und ließ die Bilder stumm weiterlaufen. War es denkbar, daß Leskov schwieg – aus Dankbarkeit für die Einladung und vielleicht auch in Erinnerung an die Eremitage?
    Doch selbst wenn: Es wäre unerträglich, sich für alle Zukunft in seiner Hand zu wissen. Er würde ihn nicht erpressen, da war sich Perlmann sicher. Aber das Wissen, fortan für immer erpreßbar zu sein, würde genügen, um ihn vollständig zu lähmen. Man mußte sich vorstellen: Er, Perlmann, an der Stirnseite der Tische in der Veranda sitzend, er mußte den Text erläutern und verteidigen, während Leskov in schäbigen Kleidern irgendwo hinten saß, an der Pfeife ziehend, auf schelmische Weise zufrieden, womöglich noch Fragen stellend und Einwände machend zur eigenen makabren Belustigung, alles mit todernstem Gesicht. Perlmann spürte den kalten Schweiß an den Händen, als er das brennende Gesicht aufstützte.
    Und dann ihre Beziehung unter vier Augen: Leskovs väterlicher Ton würde sich vielleicht, objektiv betrachtet, nicht im geringsten ändern. Aber er, Perlmann, würde künftig stets einen drohenden Unterton heraushören, eine Nuance, die ihm jede Möglichkeit raubte, sich zur Wehr zu setzen. Er müßte stillhalten und wäre wie ein Knecht, selbst wenn über die Angelegenheit nie auch nur ein einziges Wort gesprochen würde.
    Perlmann fing an, diesen Vasilij Leskov zu hassen. Es war ein ganz anderer Haß als der Haß auf Millar. Daß er Millar haßte, hatte mit dem zu tun, was er gesagt und getan hatte. Dieser Haß hatte seinen Ursprung in Dingen, die zwischen ihnen beiden vorgefallen waren. Millar war an seiner Entstehung aktiv beteiligt, und infolgedessen war Perlmanns Haß gewissermaßen in ihm verankert. Der Haß auf Leskov dagegen entstand, ohne daß dieser Russe, der jetzt ahnungslos seine Koffer packte, das geringste getan hatte. Das Haßgefühl, das ihn zur Zielscheibe zu haben schien, glitt deshalb bei näherer Betrachtung an ihm ab und fiel auf Perlmann zurück, der die Schäbigkeit seiner Empfindung wahrnahm, ohne sich gegen sie wehren zu können.
    Er stellte den Ton des Fernsehens wieder an, ärgerlich darüber, daß der Bericht über ein Erdbeben gerade zu Ende ging. Sport und Mode, das waren nicht Bilder, die ihn zu befreien vermochten; eher schienen sie ihn zu verhöhnen. Die munteren, aufgeräumten Gesichter der Moderatoren hätte er ohrfeigen mögen und erschrak, als er sich seiner absurden Hysterie bewußt wurde. Er war erleichtert, als die Wetterkarte kam; die distanzierte Perspektive des Satellitenbildes tat ihm gut. Noch nie hatte er einen Wetterbericht mit soviel Aufmerksamkeit verfolgt. Gierig betrachtete er die Spitze des Zeigestocks, wie sie von Ort zu Ort ging – alles Orte, die er sehnsüchtig betrachtete, weil sie woanders waren.
    Als die Vorhersage für morgen anfing, geriet er in

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