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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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eine schnell wachsende Panik. Gleich war die Sendung zu Ende, und dann würden Gedanken sich seiner bemächtigen, die ihn zu einem anderen, einem häßlichen Menschen machten, kalt und sich selbst fremd. Er klammerte sich an die Temperaturangaben für Italien. Als die Kamera zurückfuhr und das Pult der Moderatoren immer kleiner wurde, blieb er mit angestrengtem Blick dabei bis zum letzten Bild und dem letzten Ton der Erkennungsmelodie.
    Die grelle Werbung sprang ihn an, und er schaltete sofort aus. Aber der leere, dunkle Bildschirm, in dem sich die Nachttischlampe spiegelte, machte ihn sich selbst gegenüber wehrlos, und er schaltete den Apparat erneut ein. Verzweifelt sprang er von Kanal zu Kanal, versuchte vergeblich, sich von erotischen Bildern betäuben zu lassen, und auch der Versuch, in die Spannung einer Verfolgungsjagd mit heulenden Sirenen und Schüssen hineinzuschlüpfen, mißlang. Die Flucht vor den eigenen Gedanken war zu Ende. Sie hatten ihn eingeholt und drängten mit Macht ins Bewußtsein. Er drückte immer schneller und verzweifelter auf die Tasten der Fernbedienung, die einzelnen Kanäle jagten sich und blitzten nur noch kurz auf, dann schaltete er aus.
    Er ging ins Bad und nahm die Packung mit den Schlaftabletten aus dem Toilettenbeutel. Zwei von diesen Tabletten, das würde reichen, um für eine Weile alle Gedanken auszulöschen. Er hatte die Tabletten bereits auf der Zunge und schmeckte ihre Bitterkeit, die Vergessen verhieß, da ließ er die Hand mit dem Wasserglas wieder sinken. Es war verrückt, sich ausgerechnet jetzt, wo es um alles ging, in eine solche Betäubung zu stürzen, nicht wissend, wie lange es dauern würde, bis der Kopf wieder klar genug war, um praktisch zu denken. Er legte die feuchten Tabletten auf die Ablage, trank das Wasserglas leer und ging dann ganz langsam und mit gesenktem Kopf zurück zum roten Sessel, wie einer, dessen Zeit endgültig abgelaufen ist und der sich endlich stellen muß. Das rote Feuerzeug, das er bereits in der Hand hatte, legte er behutsam zurück auf den Tisch und zündete die Zigarette mit einem Streichholz des Hotels an. Den Rauch inhalierte er tiefer als sonst und atmete ihn ganz langsam aus. Mit dem Einatmen wartete er bis zum letzten Augenblick. Dann fing er an.
     
    Es mußte wie ein Unfall aussehen. Ein Unfall, der sich irgendwo zwischen dem Flughafen und dem Hotel ereignete. Ein Unfall, der in seiner Gegenwart geschah und den er bezeugen konnte. Es gab im Grunde nur eine einzige Möglichkeit: Es mußte ein Unfall mit einem Auto sein, das er am Flughafen mietete.
    Ein Mietwagen eigens für Leskov: Der eine oder andere mochte sich fragen, ob das nicht übertrieben war, ob es nicht auch ein Taxi getan hätte; die anderen waren schließlich auch auf ganz gewöhnliche Weise hergekommen. Aber es gab mögliche Erklärungen: Perlmann schätzte diesen Leskov noch mehr, als man bisher angenommen hatte, offenbar auch persönlich. Oder: Einem Russen gegenüber, der aus St. Petersburg anreiste und noch nie im Westen gewesen war, wollte er eine besondere Geste machen. Oder: Das Spesenkonto, das Angelini eingeräumt hatte, war so großzügig, daß man sich so etwas ohne weiteres leisten konnte. Und im übrigen würde nach einem tödlichen Unfall niemand eine solche Frage aussprechen. Auf keinen Fall, da konnte er sicher sein, war der Mietwagen für sich allein ein Anlaß, Verdacht zu schöpfen.
    Doch wie sollte er es machen, technisch gesehen? Einen Unfall während der Fahrt so zu inszenieren, daß Leskov getötet würde, er selbst aber unverletzt bliebe, das war praktisch unmöglich. Andere Menschen durften auf keinen Fall in Mitleidenschaft gezogen werden, das war von vornherein klar, darüber brauchte er nicht eine Sekunde lang nachzudenken. Und gegen einen Baum am Straßenrand fahren, gegen einen Pfosten oder Felsbrocken – niemals ließ sich der Ausgang sicher berechnen. Eigentlich kam nur eines in Frage, und es war Perlmann unheimlich, wie schnell und beinahe routiniert er auf diesen Gedanken verfiel: Er mußte direkt über einem steil abfallenden Felsen – im Gebirge oder an einer Steilküste – anhalten, aussteigen und den Wagen mit Leskov über die Kante rollen lassen. Er sah das langsam anrollende Auto vor sich, darin die massige Gestalt Leskovs, sein entsetztes Gesicht, den Mund zu einem Schrei geöffnet, der Wagen würde vornüberkippen und in die Tiefe stürzen, um in Flammen aufzugehen oder im Meer zu versinken. Perlmann preßte Daumen und

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