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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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dabei mit der feinen, mattsilbrigen Brille und dem aufgesteckten Haar. Sie müßte zerrissen werden zwischen ihrer ungebrochenen, ein bißchen naiven Ernsthaftigkeit, von der sie in ihrer Arbeit getragen wurde, und den freundschaftlichen, berührungslos zärtlichen Empfindungen, die sie ihm entgegenbrachte. Diese Empfindungen müßten ihr nun als etwas erscheinen, was er sich erschlichen hatte. Sie würden sich zersetzen und die Farbe der Verachtung und des Ekels annehmen. Er sah sie noch einmal vor sich, wie sie sich vorhin, nach seiner Brüskierung, blicklos abgewendet hatte. Er durfte nicht an ihr Gesicht denken, wenn sie es erfuhr.
    Wie war es mit Leskov selbst? Was empfand man einem Menschen gegenüber, der einem einen Text gestohlen hatte, auf den man stolz war? Wut? Verachtung? Oder konnte man sich großmütige Nachsicht leisten, wenn man erfuhr, mit welchem Preis der Dieb dafür am Ende hatte bezahlen müssen? Perlmann merkte, wie wenig er den Menschen Leskov kannte, wie unbestimmt seine innere Gestalt, die über ihn als Autor hinausreichte, blieb. Er empfand vage Erleichterung darüber, die in Gleichgültigkeit überging. Um Leskovs Urteil ging es nicht.
    An Millars Reaktion wagte er nur zu denken, indem er den inneren Blick halb abwandte. Es war unerträglich, sich die Genugtuung vorzustellen, die dieser selbstgerechte Yankee mit dem blauen, stets gleichförmig wachen Blick empfinden würde. Irgendwie überrascht es mich nicht allzusehr, würde er vielleicht sagen und den Kopf mit einem betont zurückhaltenden Lächeln nach links bis auf die Schulter neigen. Perlmann wurde von einem Haß überspült, der pochend bis in jede Zelle seines Körpers zu dringen schien, und für eine Weile wurde ihm von neuem übel. Untergetaucht in diesem Haß sah er, deutlich wie in einer Halluzination, Millars behaarte Hände vor sich, die über die Tastatur des Flügels glitten.
    Doch am schlimmsten war der Gedanke an Kirsten. Es war erlösend zu spüren, wieviel wichtiger als alles andere ihm seine Tochter war und wie selbst der Haß auf Millar verblaßte, wenn sie vor ihm auftauchte. Das gab ihm das Gefühl, die Proportionen noch nicht ganz verloren zu haben. Um so entsetzlicher war es dann aber, sich vorzustellen, was geschähe, wenn sie es erführe. Papa ein Betrüger, der sich mit fremden Federn geschmückt hatte, weil er selbst nichts mehr zustande brachte. Daß ihm nichts mehr eingefallen war, das könnte sie vielleicht noch irgendwie verstehen. Etwas hatte sie ja bei ihrem Besuch gespürt, und sie würde es sich durch Agnes’ Tod erklären. Daß er aber nicht die Ehrlichkeit und den Mut gehabt hatte, es offen einzugestehen, das würde sie nicht verstehen können. Wie ihre Mutter kannte auch sie das Milieu nicht, und vor allem konnte sie keine Ahnung davon haben, daß er nicht wegen Agnes’ Tod jetzt mit leeren Händen dastand, sondern wegen eines anderen, in gewissem Sinne noch viel größeren Verlusts, der sich so schwer beschreiben und eigentlich überhaupt nicht erklären ließ. Somit konnte sie auch nicht wissen, daß er ein Eingeständnis seiner derzeitigen Unfähigkeit nicht als etwas hätte erleben können, was unangenehm war, peinlich, aber doch etwas, wofür man um Verständnis werben konnte angesichts einer persönlichen Tragödie wie der seinen; daß er es vielmehr als eine öffentliche Preisgabe eines viel weitergehenden Bankrotts hätte erleben müssen, der ihn als ganze Person betraf, und daß ein Offenbarungseid deshalb undenkbar gewesen war. Er dachte daran, wie sie frühmorgens in ihrem langen, schwarzen Mantel vor der Tür gestanden hatte, er sah ihr spöttisches, verlegenes Lächeln und hörte ihr Hallo, Papa. Noch einmal spürte er die warme, trockene Hand mit den vielen Ringen, die sie ihm aus dem Zugfenster entgegengestreckt hatte. Gli ho detto che ti voglio bene. Giusto?
    Er blickte zum Fenster hinüber. Nein. Nein.
    Nach einer Pause der Erschöpfung, in der er sich aufs Kissen fallen ließ, spürte er mit zitternder Wachheit, daß die Gedanken, die sich nun gleich Bahn brechen würden, grauenerregend waren und ihn für immer verändern würden. Sie kamen, so schien ihm, aus einer unbekannten Ferne und bewegten sich auf ihn zu wie Wellen, die immer mächtiger wurden, bis sie ihn am Ende unter sich begraben würden. Er preßte seine eiskalten Handflächen gegen die Stirn, als könne er die Gedanken dadurch zurückdrängen. Aber sie kamen unaufhaltsam näher, sie waren stärker als er, und

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