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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Zeigefinger auf die Augen, um die Einzelheiten dieses Bildes zu verscheuchen, und es dauerte eine Weile, bis er weiterdenken konnte.
    Es mußte an einer Ausbuchtung der Straße geschehen, an einer Stelle, wo der Boden zur Felskante hin abfiel. Wie würde er anhalten? Er konnte den Gang herausnehmen und die Handbremse anziehen. Nach dem Aussteigen mußte er gebückt hineinfassen, den Knopf an der Handbremse hineindrücken, den Hebel etwas hochziehen und loslassen. Für das Hochziehen, dachte er, mußte er den Arm, wenigstens den Unterarm, ungefähr parallel zum Hebel halten, sonst ließ er sich nicht lösen, und das hieß, daß er sich weit hineinlehnen mußte gegen Leskov hin, sein Opfer. Vielleicht ging es, wenn er sich dabei mit der linken Hand auf dem Fahrersitz abstützte; vielleicht aber war es auch nötig, das rechte Knie zu Hilfe zu nehmen. Es kam darauf an, wie breit der Wagen war. In jedem Fall, und das war das Schlimme an der Vorstellung, käme er noch einmal ganz nahe an Leskovs Körper heran, und wenn er den Arm ungeschickt abwinkelte oder beim Aufstützen aus dem Gleichgewicht geriet, würde er ihn vielleicht sogar berühren. Anzusehen brauchte er ihn nicht, er konnte den Blick mit Gewalt verengen und starr auf die Handbremse fixieren. Wenn er den Hebel einmal in der Hand hatte, konnte er die Augen schließen. Aber jener Moment der blicklosen körperlichen Nähe, der so ganz anders wäre als die körperliche Nähe während der Fahrt, würde grauenvoll sein. Und vollends unerträglich war die Vorstellung, daß Leskov seine Absicht durchschaute und es zu einem Kampf käme, womöglich mit dem Ergebnis, daß sie beide zusammen hinunterstürzten.
    Er mußte es ohne Handbremse machen, nur mit dem Gang. Ihn beim Anhalten drinlassen, aussteigen und sich dann blitzschnell hineinbücken, um ihn herauszuschlagen. Das war eine Sache von ein, zwei Sekunden. Dazu brauchte er sich nicht aufzustützen, oder höchstens am Steuerrad, und kam nicht mehr in die Nähe des Beifahrersitzes. Würde Leskov die Handbremse hochreißen, wenn er das Rollen spürte? Autofahren konnte er nicht, Perlmann erinnerte sich jetzt an seine trockene Bemerkung, bei seinem Einkommen würde es ohnedies nie zu einem Auto reichen. Aber eigentlich wußte auch jeder Beifahrer, daß es eine Handbremse gab und wo sie war. Andererseits würde ihn Perlmanns Anschlag wie ein Blitz aus heiterem Himmel treffen. Und selbst wenn er in jenem Moment nicht aus dem Fenster blickte und Perlmanns Bewegung genau sah, konnte er die Situation nicht schnell genug erfassen; die Wahrheit war zu unerwartet und zu ungeheuerlich. Er wäre verwirrt ob der schnellen Bewegung und entsetzt über das Rollen, und wahrscheinlich würde beides ihn lähmen. Aber verlassen konnte er sich nicht darauf. Er mußte Leskov jedwede Gegenwehr abschneiden, indem er ganz dicht an die Felskante heranfuhr, so dicht, daß die Vorderräder schon mit dem ersten Anrollen darüber hinaus waren und der Schwerpunkt des Autos sich unwiderruflich jenseits der Kante in der Luft befand. Leskov würde vielleicht etwas Ängstliches sagen, wenn sie so weit auf den Abgrund zufuhren. Aber darauf brauchte er nicht mehr zu reagieren, er würde sich ganz auf die erforderlichen Handgriffe konzentrieren, und wenige Sekunden später wäre alles vorbei.
    Polizei. Er würde die Carabinieri holen müssen. Daran hatte er bis jetzt keinen Moment lang gedacht. In der Gedankenwelt der letzten Stunde hatte es nur Leskov gegeben und im Hintergrund die Kollegen, und das jetzt einsetzende Bewußtsein, daß der geplante Unfall auch die übrige Welt etwas anginge, die öffentliche Welt der Gesetze und Gerichte, auch der Zeitung, tauchte alles in ein grelles, eisiges Licht. Perlmann zog die Schuhe aus, setzte sich mit angezogenen Knien ans Kopfende des Betts und zog die Decke hoch bis zum Kinn. Diese Stellung war etwas Ungewohntes, Fremdes, das ihn spüren ließ, wie weit er sich bereits von sich selbst entfernt hatte.
    Ob er denn beim Anhalten den Gang nicht dringelassen habe, das würde die erste Frage sein. Natürlich habe er das, würde er antworten, wie hätte er sonst aussteigen können. Im übrigen mache man das nach dreißig Jahren Fahrpraxis an einer solchen Stelle ja wohl automatisch. Das mußte gereizt klingen, patzig. Leskov müsse den Gang aus Versehen herausgedrückt haben, als er sich, breit wie er war, nach etwas bückte. Genau in dem Moment, in dem er, Perlmann, sich umgedreht und, die Hand noch am

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