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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Lächeln lag die unausgesprochene Verwunderung darüber, daß nicht auch er drüben bei den anderen war, und gleichzeitig das Bewußtsein, daß es ihr nicht zustand, danach zu fragen.
    «Ich brauche eine Karte der Gegend hier», sagte Perlmann, und weil er mit keiner Miene auf ihre Bemerkung einging, sondern sich krampfhaft darauf konzentrierte, den Satz ohne Japsen zu Ende zu bringen, klang es herrisch, so daß er über seinen Ton erschrak.«Eine Karte in einem großen Maßstab», fügte er hinzu. Er wollte, daß die Ergänzung freundlicher klänge und einer Bitte angemessen, aber das letzte Wort wurde durch ein lächerliches Japsen verzerrt.
    Signora Morelli ging in den Nebenraum, suchte in verschiedenen Schubladen und kam schließlich mit einer Autokarte von Ligurien zurück.
    «Ecco!»sagte sie und fügte nach einer Pause, in der es Perlmann erneut schüttelte, hinzu:«Für morgen ist ein sonniger Tag angesagt. »
    Perlmann nahm die Karte, dankte tonlos und ging zum Aufzug. Die zugleitende Tür zerschnitt einen von Millars wuchtigen Akkorden.
    Die Küstenstraße, dachte er, als er mit der ausgebreiteten Karte auf dem Bett saß, kam nicht in Frage. Zwar konnte man den eingezeichneten Windungen entnehmen, daß es Abschnitte mit Steilküste oder jedenfalls mit steilen Abhängen gab. Aber solche Straßen waren meistens knapp in den Fels geschnitten und hatten keine Ausbuchtungen mit der nötigen Tiefe. Auch waren sie in der Regel mit breiten Leitplanken abgesichert. Und schließlich war dies die Straße, welche die großen Küstenorte wie Recco und Rapallo verband: An einem Montag nachmittag zwischen vier und fünf, also zur Stoßzeit, war dort viel zu viel los.
    Er mußte die Gebirgsstraße nehmen und Genua in Richtung Molassana verlassen. Danach gab es mehrere Möglichkeiten. Vielleicht gab es auf der Schleife, die bei Bargagli begann und in der Nähe von Lumarzo endete, eine geeignete Stelle. Die Schleife war in sich offenbar kurvenreich und insgesamt grün markiert, also eine Gebirgsstraße mit besonderer Aussicht. Das bedeutete, daß es hier wahrscheinlich Aussichtsstellen gab, wie er eine brauchte. Es sei denn, daß ihm die Leitplanken auch hier einen Strich durch die Rechnung machten. Dann konnte er noch eine der kleinen, rot eingezeichneten Straßen ausprobieren, auf denen man die Hauptstrecke verließ und über viele Kurven in Richtung Küste hinunterfuhr, zum Beispiel über Uscio. Und sollte er auch hier nichts finden, so konnte er noch die Strecke versuchen, die bald hinter Molassana abzweigte und über Davagna zum Passo di Scoffera hinaufführte.
    Als das Bild einer engen Paßstraße in ihm aufstieg, welche an schwarzen, vor Nässe glänzenden Schieferwänden entlang in dunkle, tief herabhängende Wolken hineinführte, schreckte Perlmann auf. Während des Kartenstudiums war er für eine Weile nichts als Kopf gewesen, ein kalter, berechnender Verstand ohne Verbindung zu den übrigen Teilen seiner selbst. Nun tauchte ihn das Bild der düsteren Paßstraße erneut in Entsetzen und Verzweiflung, der leere Magen krampfte sich zusammen, und er spürte den scharfen, sauren Geruch, den das Erbrochene in der Nase hinterlassen hatte.
    Er trat ans geschlossene Fenster und blickte hinaus, ohne etwas zu sehen. Konnte er mit dieser Tat leben – mit dem Bild des vornüberkippenden Autos, mit der Erinnerung an Leskovs Schrei, der durch die geöffnete Autotür herausdrang, mit den Geräuschen beim Aufprall und bei der Explosion, die ihn verfolgen würden?
    Dem nüchternen, taghellen Bewußtsein, einen Mord begangen zu haben, könnte er nicht standhalten, dessen war er sicher. Was er tun mußte, war dies: sich Tag für Tag einreden, daß es ein Unfall war; die klare, genaue Erinnerung an die wirkliche Tat stets von neuem mit präzisen Phantasiebildern von einem Unfall überlagern und zuschütten, und dies so lange und so hartnäckig, bis die ursprünglichen, traumatischen Bilder für immer im Untergrund blieben und die Phantasiebilder sich einstellten, als seien sie die echten Erinnerungen. Es galt, eine hauchdünne Schicht von Selbstüberredung auf die andere zu legen, bis eine neue, tragfähige Überzeugung entstand, um deren blinde Festigkeit er sich nicht mehr täglich zu kümmern brauchte. Konnte man das? War ein derart methodischer Aufbau einer Selbsttäuschung, eine derart planvolle Konstruktion einer Lebenslüge möglich? Es würde, dachte er, noch einmal eine ganz besondere Art der Gegenwartslosigkeit entstehen,

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