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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Reißverschluß der Hose, das Anrollen des Wagens bemerkt habe, sei Leskovs Kopf hinter der Scheibe von unten her aufgetaucht. Er sei natürlich noch losgerannt, obwohl bereits mit dem Gefühl der Vergeblichkeit; aber der Wagen sei gekippt, noch bevor er die Stelle erreicht habe.
    Man würde ihm nichts beweisen können, rein gar nichts. Man konnte ihm vorwerfen, er hätte auch die Handbremse anziehen müssen, gerade weil eine solche Ungeschicklichkeit des Beifahrers eben möglich war. Aber das war ein Vorwurf mangelnder Vorsicht, daraus ließ sich keine Anklage wegen fahrlässiger Tötung machen. An eine Strafverfolgung ließe sich allenfalls denken, wenn jemand aufstünde und sagte: Signor Perlmann, Sie sind ein Lügner, die Wahrheit ist, daβ Sie nach dem Aussteigen noch einmal hineingefaβt und den Gang selbst herausgenommen haben, und das bedeutet Mord. Aber das stünde als eine haltlose Beschuldigung da, die keinen Untersuchungsrichter und keinen Staatsanwalt in Bewegung zu setzen vermöchte. Denn man durfte nicht vergessen: Es war weit und breit kein Motiv sichtbar. Die Kollegen konnten in einer Befragung von nichts anderem berichten als der großen Wertschätzung, ja Hochachtung, mit der Perlmann stets von Leskov gesprochen hatte.
    Oder würde in der Gruppe ein Verdacht aufkeimen? Würde man das Telegramm und Perlmanns doch ziemlich auffällige Reaktion darauf mit dem Unfall in Verbindung bringen? Würde Evelyn Mistral sein leichenblasses Gesicht in den Sinn kommen?
    Aber selbst wenn man die beiden Dinge in Gedanken nebeneinanderhielt: Es ließ sich auch im Verschwiegenen daraus nichts machen. Denn wieder galt, daß für die anderen auch nicht der Schatten eines Motivs erkennbar war. Sie konnten ja nichts von dem Gift des Betrugs wissen, das in ihm pulsierte.
    Gleichwohl, er mußte am Tatort alles vermeiden, was zu mißtrauischen Fragen Anlaß geben konnte. Perlmann spürte den Magen und zog die Bettdecke fröstelnd noch weiter hinauf. Zunächst einmal mußte die fragliche Stelle so aussehen, daß es natürlich erschien, hier anzuhalten, um, wie er angeben würde, kurz auszutreten. Aber es genügte nicht irgendeine Ausbuchtung der Straße, wo man den Verkehr nicht behinderte. Es mußte ein Platz sein, der dazu einlud, den Wagen frontal zum Abgrund zu parken; am besten ein Platz mit einer besonderen Aussicht. Ich habe mich ganz automatisch so hingestellt, würde er sagen, man konnte das Panorama auf diese Weise am besten betrachten.
    Und dann kam es auf die Bodenbeschaffenheit an. War es ein Asphaltplatz, so spielten Bremsspuren keine Rolle. Bei Erde, Kies oder Sand hingegen mußte er aufpassen. Dicht vor der Felskante, wo er in Wirklichkeit halten würde, durfte es keine Bremsspuren geben, denn dort war der Wagen laut seiner Geschichte ja ohne Fahrer gerollt. Etwas zurückgesetzt dagegen, dort, wo er angeblich gestanden hatte, mußte es die üblichen Bremsspuren geben. Damit war der Bewegungsablauf klar: Er mußte die Straße verlassen und auf dem Platz einen Bogen fahren, bis er mit dem Kühler rechtwinklig zur Felskante stand. Dann, in einem natürlichen Abstand zur Kante, würde er bis zum Stillstand bremsen und den Motor ausschalten, um dann sogleich ganz sanft auf den Abgrund zuzurollen, das Bremspedal in rascher Folge nur so leicht antippend, daß keine Rutschspuren entstehen konnten.
    Unter der Decke machte Perlmann unwillkürlich die entsprechenden Bewegungen: Mit dem linken Bein die Kupplung drücken, mit dem rechten schnell und ganz, ganz zart pumpen, es durfte jeweils wirklich nur der Hauch eines Stoßes sein, und schließlich, zusammen mit der letzten Berührung der Bremse, die Kupplung vorsichtig loslassen, auch dadurch durfte keine Rutschspur entstehen. Perlmann, der sich in Konzentration auf diese heiklen Bewegungen nach vorne gebeugt hatte, sank wieder nach hinten. Er war erschöpft wie nach einer gigantischen körperlichen Anstrengung, und für eine Weile war nichts weiter in ihm als eine beklemmende, unheilvolle Leere.
    Er schreckte auf. Zeugen. Natürlich durfte es keine Zeugen geben. Bevor er die entscheidende, die tödliche Bewegung machte und den Gang herausschlug, mußte er sich aufrichten und sich durch einen Blick in beide Richtungen der Straße vergewissern, daß niemand kam. War ein Auto in Sicht, mußte er warten, es würden qualvolle, langsam verrinnende Sekunden sein, die letzten Sekunden von Vasilij Leskovs Leben. Mit Rücksicht auf die flüchtige, aber vielleicht trotzdem genaue

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