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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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schwarzen Kopftuch gegenübersetzte, eine freundliche Bemerkung machte und ihn mütterlich anlächelte, stand er wortlos auf und ging in einen anderen Wagen mit leeren Bänken.
    Schlimm war, daß er, weil es wie ein Unfall aussehen sollte, vor dem Tode nichts mehr ordnen konnte. Er hätte gerne einigen Menschen noch etwas gesagt. Vor allem Kirsten, wenngleich ihm die richtigen Sätze nicht in den Sinn kommen wollten. Auch Hanna hätte er noch einmal sehen wollen, er war ihr eine Erklärung schuldig für den überfallartigen, gespenstischen Anruf, bei dem er sich mit keinem einzigen Wort nach ihrem eigenen Leben erkundigt hatte. Er versuchte sich vorzustellen, wie sie heute aussah. Er sah das flache Gesicht vor sich, eingefaßt in das blonde Haar mit der dunklen Strähne, aber das Gesicht blieb in der Vergangenheit eingefroren und ließ sich durch die verflossenen drei Jahrzehnte hindurch nicht fortentwickeln.
    Er wäre gerne noch einmal durch seine helle Frankfurter Wohnung gegangen, hätte sich ein letztes Mal an den Schreibtisch gesetzt und hätte ein letztes Mal Agnes’ Fotografien betrachtet. Und dann die Tagebücher. Er wünschte, er hätte noch die Möglichkeit, sie zu vernichten. So würde Kirsten sie nun finden. Vergeblich versuchte er sich zu erinnern, was eigentlich drinstand. Er hoffte sehr, sich zu täuschen, aber als er in Genua den Bahnsteig betrat, hatte er das beklemmende Gefühl, einen dicken Stoß Kitsch zu hinterlassen.
    Er trat in den Säulenvorbau des Bahnhofs hinaus, mußte mehrere Taxifahrer abwimmeln und fand schließlich eine ruhige Ecke. Er würde den kleinsten Wagen nehmen, den sie hatten, einen mit einem kurzen Kühler und ohne Knautschzonen. Damit es schnell ging und er sicher sein konnte, daß es klappte. Plötzlich hatte er den Eindruck, Durchfall zu bekommen, und rannte auf die Toilette. Es war blinder Alarm. Sein Herz klopfte bis in den Hals hinauf, als er danach auf die Schalter der Mietwagenfirmen zuging. In einer Ecke blieb er stehen und zwang sich, ruhig zu atmen. Das Mieten des Autos, für sich genommen, zwang ihn noch zu gar nichts, er konnte es jederzeit zurückbringen, als sei nichts gewesen. Er mußte sich diesen Gedanken mehrmals vorsagen, ganz langsam und konzentriert, ehe es ihm gelang, seine Erregung einzudämmen, und er den Eindruck hatte, seiner Stimme sicher zu sein.
    Die Schalter der drei Firmen hatten alle geschlossen. Damit hatte er nicht gerechnet, und er hatte es vorhin nicht bemerkt, obwohl er sie beim Hinaustreten direkt vor der Nase gehabt hatte. Für mehrere Minuten blieb er einfach stehen, die Hände in den Hosentaschen, und blickte ins Leere. Dann ging er langsam hinüber zum Fahrplan und sah nach, wann der nächste Zug nach Santa Margherita abfuhr. Auf dem Weg zum Bahnsteig hielt er abrupt inne, biß sich auf die Lippen und ging dann den Weg zurück zu den Taxis.
    «Also doch», grinste der Fahrer, den er vorhin abgewiesen hatte.
    Perlmann knallte die Wagentür zu.«Zum Flughafen», sagte er in einem Ton, der den Fahrer veranlaßte, sich umzudrehen und ihm einen erstaunten Blick zuzuwerfen, ehe er losfuhr.
     
    «Es tut mir leid, Signore», sagte die grell geschminkte Hostess im roten Dress der Firma AVIS,«aber wir haben nur noch einen einzigen Wagen frei, einen großen Lancia. Alle anderen sind bis Mitte der Woche vermietet, in der Stadt ist eine große Industriemesse. »
    «Wenn das so ist», sagte Perlmann gereizt und kämpfte seine aufflackernde Hysterie nieder,«warum ist dann Ihr Schalter am Bahnhof geschlossen, und warum haben die anderen Firmen hier nebenan zu?»
    «Das, Signore, kann ich Ihnen nicht sagen», gab die Hostess schnippisch zurück und machte sich am Computer zu schaffen.
    Perlmann sah auf die Uhr: halb zwölf. In gut fünf Stunden fing es an zu dämmern, und er brauchte vielleicht lange, bis er eine geeignete Stelle gefunden hatte.
    «Also gut, ich nehme ihn», sagte er.
    Die Hostess ließ sich Zeit, bevor sie mit dem Ausfüllen des Formulars begann. Für wie lange er den Wagen mieten wolle?
    Die Frage brachte Perlmann aus der Fassung, als sei er etwas Obszönes gefragt worden. Daß da eine Auskunft von ihm verlangt wurde, die über seinen Tod hinausreichte und für ihn deshalb jeglicher Bedeutung entbehrte, brachte ihm erneut in aller Schärfe zu Bewußtsein, wie tief die Kluft geworden war zwischen seiner privaten, zu Ende gehenden Zeit und der öffentlichen Zeit, der Zeit der Verträge und des Geldes, die immer weitergehen

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