Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Perlmann setzte die Sonnenbrille auf, grüßte mit einer knappen Handbewegung und ohne den Schritt zu verlangsamen, und ging die Freitreppe hinunter. Soeben hatte er sich – dachte er beim Warten auf der Straße – auf sonderbare Weise unangreifbar gefühlt, als er, ein bißchen wie ein Gespenst, an den anderen vorbeigegangen war. Zwar hatte er vermieden, Evelyn Mistral anzusehen. Aber das war, wie ihm jetzt schien, eigentlich unnötig gewesen; denn von nun an war sie weit weg von ihm, in einer anderen Zeit. Das nämlich war es, was ihn so ruhig und unangreifbar machte: Durch den Entschluß, in den Tod zu fahren, war er aus der gewöhnlichen Zeit, die man mit den anderen teilte und in der man mit ihnen verflochten war, ausgetreten und bewegte sich jetzt in einer eigenen, privaten Zeit, in der zwar die Uhren gleich gingen, die im übrigen aber unverbunden neben der anderen Zeit herlief. Erst jetzt, wo ich die Zeit der anderen verlassen habe, gelingt mir die Abgrenzung von ihnen. Das ist der Preis.
Die neue Zeit, dachte er im Taxi, war abstrakter als die andere, auch statischer. Sie floß nicht, sondern bestand in einer dürren Aneinanderreihung von Momenten, die man, einen nach dem anderen, durchleben, oder besser: abarbeiten mußte. Gegenwartslosigkeit, das stellte er verblüfft fest, als er durch das offene Wagenfenster auf das glatte, gleißende Wasser hinausblickte, war plötzlich kein Problem mehr. In der neuen Zeit, die bis irgendwann morgen nachmittag dauern würde, um dann zusammen mit seinem Bewußtsein aus der Welt zu verschwinden, gab es Gegenwart nicht einmal als Möglichkeit, so daß man sie auch nicht vermissen konnte. Was es gab, war nur noch dies: das kühle Berechnen und Einhalten von Uhrzeiten bei der Planung und Ausführung seines Vorhabens. Perlmann kurbelte das Fenster hoch, bat den Fahrer, das Radio abzustellen, und lehnte sich in dem zerschlissenen Sitz zurück, dessen kaputte Federn ihn in den Rücken stachen. Er öffnete die Augen erst wieder, als das Taxi unter den gelb gewordenen Platanen vor dem Bahnhof hielt.
Am Montag abend, als er mit Kirsten auf dem Bahnsteig gewartet hatte, war er für das sinnlose, schrille Klingeln dankbar gewesen. Es hatte sie beide für eine Weile aus der Verlegenheit des sprachlosen Zusammenseins erlöst. Perlmann sah noch einmal Kirstens befreites Lachen vor sich, als sie sich die Ohren zuhielt. Heute machte ihn der durchdringende, endlose Ton wehrlos, und er ging wieder hinaus zu den Platanen.
Er würde einen Zettel mit Kirstens Telefonnummer auf dem Schreibtisch lassen, so daß sie deswegen nicht in seinen Sachen zu wühlen brauchten. Das war etwas Natürliches, schließlich wohnte Kirsten noch keine drei Monate in Konstanz. Welcher der Kollegen würde sie anrufen? Wahrscheinlich übernahm das von Levetzov, eine solche Hiobsbotschaft übermittelte man möglichst in der Muttersprache, und Ruge würde sich zurückhalten. Aber wie erfuhren es die Kollegen überhaupt?
In seiner Brieftasche mußten die Carabinieri etwas finden, aus dem hervorging, daß er im MIRAMARE gewohnt hatte. Es sei denn, das Auto ging in Flammen auf. Es war das erste Mal, daß Perlmann an die Möglichkeit dachte, hinter dem Steuer zu verbrennen, und es brach ihm der Angstschweiß aus bei der Vorstellung, die Flammen könnten ihn erfassen, während er noch gar nicht tot war, sondern vielleicht nur bewußtlos. Er war erleichtert darüber, daß ihn das Geräusch des einfahrenden Zuges von dieser Vorstellung losriß.
Das rhythmische Klopfen der Räder tat gut, es gab ihm das Gefühl, daß alles noch in der Schwebe war, er war frei und konnte seinen verzweifelten Entschluß jederzeit widerrufen. Er hätte sich am liebsten für immer von diesem Klopfen forttragen lassen und war ärgerlich, daß er einen Bummelzug erwischt hatte, der an jeder Station hielt. Wenn das Klopfen nach einem Halt wieder einsetzte und rascher wurde, gelang es ihm für Minuten, sich in den Gedanken zu flüchten, im Grunde sei alles gar nicht so schlimm, schließlich gehe es doch nur um einen Text, um ein paar beschriebene Seiten also, das konnte doch unmöglich ein Grund sein, alles gewaltsam zu beenden. Doch wenn der Zug dann wieder hielt, packte ihn erneut das Entsetzen bei der Vorstellung, die Entdeckung des Plagiats und die damit verbundene Ächtung durchleben zu müssen, Minute für Minute, Stunde für Stunde, Tag für Tag, bis ans Lebensende. Als sich ihm in Nervi eine alte Frau mit einem gehäkelten,
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