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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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und die ganze Schlucht auszufüllen schien, dieses Mal hatte er ein Gesicht, ein Gesicht mit weitaufgerissenen, angstvollen Augen, das sich in ein triumphierendes Gesicht mit verächtlichem Blick verwandelte, das Gesicht kam ruckartig näher und wurde zur Großaufnahme, schließlich war es ein Gesicht mit einem breiten, verzwirbelten Schnurrbart, das sich schnell zu einer höhnischen Fratze verzerrte.

29
     
    Als Perlmann schweißgebadet und noch ganz benommen aufwachte, war es halb neun, und die Sonne schien wie an den beiden vorhergehenden Tagen aus einem wolkenlosen Himmel, so daß es ihm hinter seiner Betäubung für einen winzigen Augenblick zu denken gelang, es sei erst Freitag morgen und alles sei noch in Ordnung. Einmal entglitten, ließ sich die Illusion nicht wiederholen, und er ging mit langsamen, unsicheren Schritten ins Bad. Duschen war ihm gestern als etwas vorgekommen, was einem Betrüger nicht mehr zustand. Heute morgen, nach einer Nacht, in der ihm noch ganz andere Dinge durch den Kopf gegangen waren, schien ihm dieses Gefühl überholt, beinahe lächerlich. Unter dem vielen Wasser wich die Betäubung, und die Traumbilder, die zurückgekehrt waren, verloren allmählich ihre Macht.
    Noch ist nichts geschehen, dachte er immer von neuem, noch bleiben mir dreißig Stunden. Das Hungergefühl, das sich einstellte, war ihm zuwider, am liebsten hätte er nie mehr etwas gegessen. Aber das lästige Gefühl mußte beseitigt werden, und so bestellte er ein Frühstück, obwohl es ihm unangenehm war, jetzt einem Kellner zu begegnen. Während er mechanisch Hörnchen in sich hineinstopfte und Tasse um Tasse Kaffee trank, wurde ihm langsam klar, daß es da noch eine weitere Möglichkeit gab, an die er gestern nacht nicht gedacht hatte: Er konnte einen Autounfall inszenieren, bei dem er sich selbst tötete und Leskov mit in den Tod riß.
    Vorerst wagte er nicht, sich auszumalen, wie das im einzelnen geschehen könnte; zunächst galt es, dem Gedanken in seiner abstrakten Form standzuhalten. Er spürte, wie sein Atem schneller ging, und sah, wie die Hand leicht zitterte, als er eine Zigarette anzündete. Und doch war er erstaunt darüber, auf wie wenig Widerstand dieser neue Gedanke in ihm stieß. Ein Mord war es doch auch. Aber das schien ihm auf sonderbare Weise nebensächlich. Die Hauptsache war, daß dann nur noch Dunkel sein würde und vollkommene Stille. Er rauchte in langen, tiefen Zügen, während er in dieser Vorstellung versank. Je länger er bei ihr verweilte, desto mehr fühlte er sich zu ihr hingezogen. Die ganze Müdigkeit, die in den letzten Tagen in ihm angewachsen war, schien wie selbstverständlich auf diese vorgestellte Stille hin angelegt. Und mehr noch: Plötzlich kam es ihm vor, als habe er all die Monate seit Agnes’ Tod nichts anderes getan als darauf zu warten, daß diese Stille eintrat. Gewiß, es war ein Mord damit verbunden. Aber der Gedanke an Leskov blieb blaß, die Nachwirkung der Tabletten lähmte die Einbildungskraft, und hinter Perlmanns schweren Lidern formte sich stets von neuem ein einziger Gedanke: Ich werde keine Sekunde mit diesem Mord leben müssen. Ich werde also keine Sekunde meines Lebens ein Mörder sein. Er spürte, daß das ein Sophisma war, ein tollkühner Trugschluß, aber er hatte nicht den Willen, ihn zu entwirren, und klammerte sich an die Wahrheit, welche die Sätze an der Oberfläche besaßen.
    Er verfaßte ein Rundschreiben, in dem er den Kollegen mitteilte, daß Vasilij Leskov nun offenbar doch einen Weg gefunden habe, um wenigstens noch für einige Tage hierherzukommen, und daß er morgen nachmittag eintreffe. Die erste Sitzung über seinen, Perlmanns, Text werde deshalb nicht, wie vorgesehen, am Montag nachmittag nach dem Empfang im Rathaus stattfinden, sondern erst Dienstag morgen, da er am Montag Leskov vom Flughafen abholen wolle. Er schrieb rasch und ohne Zögern, und als er nachher Geld und Kreditkarten einsteckte, die Autokarte in der Jacke verstaute und nach unten ging, war er froh und entsetzt zugleich über die Geschäftsmäßigkeit, ja Kaltblütigkeit, die von ihm Besitz ergriffen hatte.
    Er beauftragte Signora Morelli, das Rundschreiben zu kopieren und in die Fächer zu legen. Dann erzählte er ihr von Leskovs bevorstehender Ankunft und ließ ein Zimmer für ihn reservieren, wobei er den Namen buchstabierte. Schließlich bat er sie, nach einem Taxi zu telefonieren.
     
    Die anderen saßen an diesem sonnigen, warmen Morgen alle auf der Terrasse.

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