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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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hatte, kam alles auf hohe Geschwindigkeit an, und die war am Berg selbst mit diesem Wagen nicht zu erreichen. Außerdem konnten die Bremsen des Lastwagens durch den Aufprall beschädigt werden, und dann würde er, das Wrack des Lancias vor sich herschiebend, hinunterrollen, mit wachsender Geschwindigkeit und unabsehbaren Folgen.
    Nach dem Tunnel kamen einige Stellen, die vom Straßenverlauf her in Frage gekommen wären. Aber dort gab es Häuser mit Leuten, die gaffend in den Fenstern lehnten. Solche Leute würde es auch morgen geben, und es war unmöglich, es unter ihren Augen zu tun. Überhaupt gab es viel zu viele Häuser, ein Dorf folgte auf das andere. Und überall Leute in den Fenstern, Hunderte von ihnen, wie es Perlmann schien. So hatte er sich das nicht vorgestellt; auf der Karte sah man von diesen Nestern nichts.
    Weit über die Hälfte der Strecke hatte er schon hinter sich, als ein Straßenstück von der richtigen Länge kam, gerade und leicht abfallend, auf der anderen Seite eine Stützmauer. Genau dort, wo er sich den Aufprall vorstellte, stand ein Ortsschild, schwarz auf weiß: Pian dei Ratti. Am Ende, dort, wo der Lastwagen aus der Kurve auftauchen würde, stand ein Haus, aber die Rolläden waren heruntergelassen, es sah unbewohnt aus. In der Kurve, aus der er selbst kam, gab es linker Hand eine offene Werkstatt, in der Schieferplatten geschnitten und geschliffen wurden. Morgen würden sie dort arbeiten. Perlmann fuhr bis zu dem Punkt, an dem man ihn von der Werkstatt aus wegen der Bäume nicht mehr sehen konnte. Die restliche Strecke war immer noch lang genug. Nur das Anhalten war ein Problem. Rechts ging es senkrecht hinunter zum Fluß, und er konnte trotz der beschädigten Leitplanke nur etwa mit der Hälfte des großen Wagens auf die schmale Grasnarbe fahren. Trotzdem, dachte er, ließ es sich hier machen. Nur mußte er sich die Vorboten dieser Stelle genau merken, damit er sie morgen nicht verpaßte.
    Er drehte und fuhr zum nächsten Ortsschild zurück: Piana also hieß der Ort. Nach dem Schild kam ein größeres Fabrikgebäude, das einen verlassenen Eindruck machte, dann zwei gepflegte Häuser und hinter ihnen, in der beginnenden Kurve, drei Pinien, wo ein großes Plakat hing, das für den Kundendienst von RENAULT warb. Wenn er das Plakat passierte, war er bereits in der Kurve mit der Werkstatt, er konnte das Schild mit Pian dei Ratti sehen, und dann waren es nur noch etwa fünfzig Meter.
    Dieses Stück wollte er ganz langsam abfahren, um es möglichst scharf und detailliert ins Gedächtnis einzuritzen. Aber ein Auto mit einem Brautpaar und einem Schwanz von scheppernden Blechbüchsen hupte hinter ihm wie verrückt, so daß er nachher den Eindruck hatte, sich nicht auf die Erinnerung verlassen zu können. Er fuhr zurück, wendete im Hof der Fabrik und wiederholte das Ganze. Aber sein Gedächtnis schien die Bilder einfach nicht aufnehmen zu wollen. Es war wie verhext: Jedesmal, wenn er wieder Pian dei Ratti las, war das soeben Gesehene wie weggewischt.
    Er brauchte eine längere Vorwarnzeit und mehr Anhaltspunkte. Schwitzend fuhr er zwei Dörfer zurück und starrte jedesmal auf die Schilder, bis ihm die Augen weh taten: Zuerst würde er morgen Monleone passieren und dann Pianezza, das direkt in Piana überging. Dann die Pinien und das Plakat, schließlich Pian dei Ratti.
    An der fraglichen Stelle hielt er und zündete erschöpft eine Zigarette an. Als er nach vorn blickte, um die Distanz noch einmal abzuschätzen, sah er, daß an dem Haus bei der Kurve ein Rolladen hochgezogen war. Erneut fing er an zu schwitzen. Hatte er das vorhin übersehen? Oder war inzwischen jemand nach Hause gekommen? Er stellte die Brille schräg, konnte aber trotzdem nicht erkennen, ob jemand am Fenster stand. Vielleicht waren die Leute nur heute weg, und morgen, wenn er mit Leskov um die Kurve bog, lehnten sie im Fenster. Sie würden sehen, wie der Lancia an dieser unnatürlichen Stelle hielt, wer weiß wie lange, und wie er dann in genau dem Moment losraste, in dem von unten ein Lastwagen kam. Und sie würden sehen, wie der Wagen plötzlich herumgerissen wurde. Perlmann nahm in Gedanken die Position dort am Fenster ein: Es müßte für jeden Beobachter nach Absicht aussehen. Da gab es gar keinen Zweifel.
    Es war schwer, den Ärger über die Vergeblichkeit der letzten halben Stunde in Schach zu halten. Aber er gab sich Mühe und fuhr mit beherrschter Ruhe weiter. Zwanzig Minuten später kamen bereits die mondänen Villen

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