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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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eine, die er noch nicht kannte: die Gegenwartslosigkeit der Lüge – ein Zustand, in dem die Gegenwart fehlte, weil eine grundlegende Wahrheit, eine bestimmende Wirklichkeit des eigenen Lebens verleugnet wurde.
    Das Telefon klingelte. Obwohl Perlmann es auf die leiseste Klangstufe eingestellt hatte, kam ihm das Klingeln schrill und durchdringend vor, die ganze Welt schien ihn durch dieses Geräusch hindurch anzuspringen. Kirsten. Er ging hinüber zum Nachttisch, streckte langsam die Hand aus und ließ sie auf dem Hörer ruhen. Der Wunsch, ihrer hellen Stimme und dem sorglosen Tonfall zuzuhören, war übermächtig und glich einem brennenden Schmerz. Doch er zog die Hand wieder zurück, setzte sich auf die Bettkante und stützte den Kopf auf die Fäuste. Neben ihm, er sah sie hinter geschlossenen Lidern, lag die offene Karte mit der Route des Verbrechens. Das Klingeln wollte kein Ende nehmen. Perlmann hielt sich die Ohren zu, aber vergeblich, denn nun hörte er den Ton in der Vorstellung.
    In der Stille, die endlich eintrat, nahm er das rote Feuerzeug in die Hand. Dem Töten muβ eine persönliche Beziehung zugrunde liegen; sonst ist es pervers. Mit einemmal kamen ihm die Gedankengänge der letzten Stunden unwirklich vor, geradezu grotesk. An Leskov einen Mord zu begehen, das war völlig ausgeschlossen. Denn selbst wenn es ihm gelänge, sich vor sich selbst in eine wirkungsvolle Selbsttäuschung einzuspinnen: Bei der ersten Begegnung mit Kirsten, beim ersten Blickwechsel, der ersten Berührung, würde das ganze Lügengebäude in ihm einstürzen wie ein Kartenhaus. Dann stünde er vor ihr im weißglühenden Bewußtsein, ein Mörder zu sein.
    Unwillkürlich erhob er sich, um diese unerträgliche Vorstellung in einer Bewegung zu ersticken. Er nahm eine Zigarette und öffnete das Fenster. Er empfand grenzenlose Erleichterung darüber, daß die Mordgedanken von ihm abfielen wie ein böser Traum, und nach einer Weile begann er, die Lichter draußen wahrzunehmen. Gierig sog er sie mit den Augen ein, jedes einzelne von ihnen. Als er die nächtliche Szenerie in sich aufgenommen hatte und ruhig wurde, zündete er sich die Zigarette mit Kirstens Feuerzeug an, das leise klickte.
    Während der ersten Züge gelang es ihm, sich ganz auf den Gedanken zu konzentrieren, daß er nun nicht zum Mörder würde, und er erlebte eine Art von Gegenwart, die Gegenwart einer großen Erleichterung. Aber dieser ganze Zustand, das spürte er überdeutlich, hatte etwas Vorläufiges an sich, etwas von einem bloßen Atemholen, er fand gewissermaßen in einer Klammer statt, die in der bedrängenden Frage bestand, was in aller Welt er denn tun sollte, wo nun auch die Möglichkeit des Mordes ausgeschieden war. Als er fühlte, daß er diese Frage nicht mehr länger von sich fernhalten konnte, ging er ins Bad und schluckte die beiden immer noch ein bißchen feuchten Schlaftabletten. Die Karte, die er zusammenfaltete und auf den runden Tisch legte, war jetzt bereits ein Requisit aus einem längst vergangenen Drama der Phantasie.
    Als er das Licht löschte, fingen die Tabletten bereits an zu wirken. Sein linker Fuß drückte die Kupplung, der rechte machte vorsichtige Bremsbewegungen. Über diesen zwanghaften Bewegungen, gegen die er sich vergeblich wehrte, schlief er ein.
     
    Die Handbremse saß fest, als sei sie einzementiert, er mußte weiter hineinkriechen und stützte sich mit einem Knie auf den Fahrersitz, aber der Hebel ließ sich keinen Millimeter bewegen, auch dann nicht, als er ihn mit beiden Händen hochzuziehen versuchte, der Knopf, mit dem er zu lösen wäre, war ebenfalls nicht zu bewegen und fühlte sich an wie aus Stein, dann gab es plötzlich keinen Knopf mehr, und der Druck des Daumens ging ins Leere, all das kostete Sekunden, und der Puls raste, jetzt faßten ihn schweißnasse, rauhe Hände am Arm, es gab einen Kampf, Leskov verfügte über Bärenkräfte, war sonst aber ein Gegner ohne Gesicht, auf einmal geriet der Wagen ins Rollen, eigentlich war es mehr ein Gleiten, dessen Schrecken in seiner Lautlosigkeit lag, der Kampf war zu Ende, und sie kippten vornüber in ein blindes Weiß, langsam wie in Zeitlupe.
    Dann wieder spürte er, wie seine rechte Hand den Gang herausschlug, er machte diese schnelle, heftige Bewegung stets von neuem, es war, als sei er nur noch dieser Arm und diese Hand, wieder begann der Wagen zu rollen, da riß Leskov die Handbremse hoch, das knirschende Geräusch hatte ein endloses Echo, das den gesamten Parkplatz

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