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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Laster treffen. Dazu war es erforderlich, frühzeitig und vollständig auf die Gegenfahrbahn zu wechseln, so, als wolle er überholen. Damit aber würde für jeden, der es sah, mindestens also für den Lastwagenfahrer, klar, daß es Absicht war. Und natürlich würde Leskov in den entsetzlichen Sekunden, in denen die Front des Lasters rasend schnell auf sie zukam, erkennen, daß er einen Mörder neben sich hatte, einen Mörder und Selbstmörder, er würde ihm womöglich ins Steuer fallen, und es gäbe einen Kampf, einen Kampf mit ungewissem Ausgang. Auch das wie im Traum.
    Riß er, auf der anderen Seite, das Steuer erst unmittelbar vor dem Aufprall herum, so würde, wenn er es einen Moment zu spät tat, die Stoßstange des Lasters nur die linke Seite des Lancias treffen, er selbst würde vielleicht getötet, Leskov aber bliebe am Leben und könnte den Mordversuch bezeugen. Tat er es hingegen etwas früher, so daß der Lancia in seiner ganzen Länge auf der Gegenfahrbahn, schräg vor dem Laster, zu liegen kam, so würden zuerst der rechte Kotflügel und dann die rechte Tür eingedrückt, Leskov würde getötet und gegen ihn gedrückt, sein fetter Körper wäre der Schutzschild, der ihm selbst das Leben rettete, und so, unter Leskovs Leiche begraben, würde er spüren, wie der Lastwagen den zusammengestauchten Lancia noch eine Weile vor sich herschob, bevor er mit einem Schnaufen der hydraulischen Bremsen zum Stillstand kam.
    Perlmann erschrak über die makabre Genauigkeit seiner Phantasie. Er versuchte, sich gegen den Sog der vorgestellten Einzelheiten zu wehren und stellte das Radio an, um die Macht der Vorstellungsbilder zu brechen. Als das nichts half, stieg er aus und ging mechanisch auf dem Kiesplatz hin und her, wobei er manchmal am Rande stehenblieb, mit leerem Blick auf den Abfall starrte und in die kalten Hände hauchte.
    Wenn er nur wüßte, wie der Verkehr hier werktags war. Daß heute nur wenige Autos kamen und bisher nicht ein einziger Lastwagen, bedeutete gar nichts. Was war, wenn es morgen Autokolonnen gab, so daß es sich ohne Gefährdung der anderen gar nicht bewerkstelligen ließ? Aber das ist die einzige Möglichkeit. Und aufgeben kann ich das Ganze nicht. Ich kann die Universität nicht tagtäglich betreten als ein entlarvter Betrüger, ein geächteter Mann.
    Zwanzig vor fünf. An der Küste draußen war es jetzt noch hell, aber hier hinten im Tal begann es bereits zu dämmern. Etwa um diese Zeit würden sie morgen hier ankommen. Bis Leskov mit dem Gepäck durch den Zoll war, konnte es leicht halb vier werden. Man konnte morgen zügiger fahren als heute, es galt ja nichts mehr zu suchen und zu memorieren, andererseits war in Genua viel mehr Verkehr als heute, das hatte er ja damals beim Plattenkauf gesehen. Unter einer Stunde war es bis hierher kaum zu schaffen. Eine entsetzliche, eine endlose Stunde, in der er mit Leskov reden mußte, als sei alles in Ordnung und freue er sich über seine Ankunft. Um dann mit Vollgas ins weißglühende Scheinwerferlicht eines Lastwagens zu rasen.
    Mehr Verkehr könnte auch eine Hilfe sein, dachte er, nun wieder hinter dem Steuer. Statt nur die Linie zu fahren, die man bei einem Überholmanöver führe, könnte er es wie einen Unfall bei einem wirklichen Überholmanöver aussehen lassen. Das kam ja oft vor: daß einer ausscherte und auf der Gegenfahrbahn mit einem entgegenkommenden Wagen frontal zusammenstieß. Damit es glaubwürdig war, mußte dem Fahrer des ausscherenden Wagens die Sicht auf den Gegenverkehr verdeckt sein. Da sein Gegenverkehr ein großer Laster war, durfte vor ihm also kein Personenwagen sein. Er mußte hinter einem anderen Lastwagen oder einem Bus herfahren, dann aus dessen Windschatten heraus mit Vollgas auf die andere Seite, und das genau in dem Moment, in dem der fragliche Laster anrollte. Das Ganze müßte so berechnet sein, daß der vorausfahrende Laster oder Bus, damit er nicht in Mitleidenschaft gezogen würde, am anrollenden Wagen bereits vorbei wäre, wenn der Aufprall erfolgte. Nein, ein Bus durfte es nicht sein, jedenfalls keiner mit Passagieren. Das also ist das letzte, was ich in meinem Leben tue: die Geschwindigkeit physikalischer Körper abschätzen, die sich gegeneinander bewegen.
    Er verwarf auch diesen Plan. Zu vieles müßte zusammenkommen: ein geeigneter Laster, der entgegenkam; einer, hinter dem er für einen Moment herfahren konnte; und sonst ein leerer Tunnel. Diese Konstellation war viel zu unwahrscheinlich, darauf

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