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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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konnte er nicht setzen. Hinzu kam, daß in einem Tunnel mit Gegenverkehr eigentlich niemand überholte, die doppelt gezogene Linie in der Mitte wurde in einem Tunnel selbst von Leuten respektiert, die sonst tollkühn fuhren. Es wäre kein Beweis, aber erstaunt wäre man schon, daß Perlmann wie ein Rowdy gefahren war.
    Wie vor drei Stunden am Bahnhof übermannte ihn für eine Weile eine betäubende Gleichgültigkeit. Er war versucht, einfach ins Hotel zu fahren und sich, ohne noch länger an irgend etwas zu denken, ins Bett zu legen. Mitten in dieser gleichgültigen Müdigkeit, welche die Welt einige Schritte zurückweichen ließ und sie mit einem matten Grau überzog, tauchte aus dem Tunnel ein Lastwagen auf. Perlmann war mit einem Schlag hellwach, stieg aus und starrte, auf die offene Tür gestützt, gebannt auf den mit Kies beladenen Wagen, von dessen Ladefläche es heruntertropfte. Die vordere Stoßstange hing auf der einen Seite herunter und war mit einem Seil nur notdürftig befestigt. Er war von diesem Anblick wie hypnotisiert und sah nicht, daß ihm der Fahrer zuwinkte, als er an ihm vorbeifuhr. Danach blickte er der feuchten Spur nach und versuchte, sich der Wahrnehmung bewußt zu werden, die ihn zu quälen begann. Der Benzintank. Bei diesem alten, klapprigen Lastwagen saß er weit vorne, der Füllstutzen kam direkt nach dem Vorderrad, und es hatte ausgesehen, als erstrecke sich der Tank hinter dem Rad noch weiter nach vorn. Ein Wagen wie dieser ginge sofort in Flammen auf, für den Fahrer wäre es der sichere Tod.
    Am Hafen war es gewesen, wo er am Freitag, vom Schiff aus, die vielen Lastwagen gesehen hatte, die auf die gelöschte Ware warteten. Es mußte sich um die Gegend handeln, wo er heute mittag die frisch asphaltierte Straße gesehen hatte, die direkt auf das Hafengelände führte. Dort konnte er sich vergewissern, daß der Tank bei modernen Fahrzeugen weiter hinten und besser geschützt angebracht war. Aber er konnte hier nicht weg, bevor er Klarheit über den gesamten Verlauf des vorgetäuschten Unfalls hatte, über die letzten Bewegungen, die er in seinem Leben vollziehen würde. Er stieg wieder ein, ließ das Fenster hochgleiten und stellte die Standheizung an. Die Musik aus dem Radio machte er hastig wieder aus, als er die Tränen spürte. Einer, der so etwas vorhatte wie er, hatte das Recht auf Musik verwirkt, und auch das Recht auf Tränen.
    Er starrte in die Dämmerung hinaus, wo der Lichtkontrast zwischen dem Tunnelinneren und der Welt draußen langsam schwächer wurde. Ja, das war es: Er würde dem auftauchenden Lastwagen zunächst ganz normal entgegenfahren und dann, noch etwa zwei-, dreihundert Meter von ihm entfernt, in dem leeren Tunnel zu schlingern beginnen, so daß der Fahrer und die Polizei annehmen mußten, er habe plötzlich einen Lenkungsdefekt gehabt. Gleichgültig, ob der Fahrer noch versuchte, ihm auszuweichen, oder ob er einfach auf die Bremse trat: Mit einem letzten Schlenker würde er den Lancia genau auf den Kühler des Lasters ausrichten. Einen Verdacht auf Alkohol würde die Autopsie ausräumen.
    Würde Leskov ihm aber nicht auch bei dieser Variante ins Steuer fallen? Tat einer das überhaupt, der selbst nicht Auto fuhr? Er würde es tun, wenn er eine Absicht erkannte, es wäre wie ein Reflex. Aber er würde es nicht tun, wenn Perlmann ihm ein Versagen der Lenkung vorspielte – wenn er tat, als versuche er krampfhaft, den Wagen unter Kontrolle zu bringen. Er mußte das durch eine verzweifelte Bemerkung, durch einen Fluch unterstreichen. In Gedanken ging er einige durch. Also wird die letzte Szene meines Lebens Theater sein, ein billiges Täuschungsmanöver, eine Schmierenkomödie. Bei diesem Gedanken hatte er einen Moment den Eindruck, daß das Schlimmste an seinem Plan nicht die Rücksichtslosigkeit und unbarmherzige Kälte war, nicht einmal die Brutalität, sondern die fürchterliche Schäbigkeit einem Mann gegenüber, der im Gefängnis gesessen hatte, unter viel härteren Bedingungen leben mußte als er und nun das erste Mal mit großen Erwartungen zu bewunderten Kollegen in den Westen reiste.
    Er wünschte, er könnte es jetzt gleich tun und auf der Stelle alles hinter sich bringen. Doch da war zunächst noch ein Abendessen zu durchleben, und dieses Mal genügte es nicht, es nur schweigend über sich ergehen zu lassen. Wegen des Empfangs morgen würde auch Angelini dabei sein. Man würde über Leskov reden, und jetzt, wo seine Ankunft bevorstand, würden die anderen

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