Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
können? Wie hatte sie eigentlich reagiert, wenn er ihr hin und wieder andeutete, daß ihm der Beruf entglitt? War ihr jemals klargeworden, wie sehr er kämpfen mußte, um sich innerlich gegen die Erwartungen anderer Menschen zu behaupten? Er hatte immer mehr den Eindruck, sie wenig gekannt zu haben, vor allem, was ihre Wahrnehmung von ihm betraf. Als er das Bild schließlich auf Armlänge von sich weg hielt, entstand das Gefühl vollständiger Fremdheit, und er meinte sicher zu sein, daß sie ihm nicht hätte helfen können. Er nahm zum zweitenmal Abschied von ihr. Es war viel schlimmer noch als am Grab.
Im dunklen Zimmer, das nur durch einen schwachen Schein kalten Mondlichts erhellt wurde, lehnte sich Perlmann am Kopfende des Betts aufrecht gegen die Wand. Sich richtig hinlegen, einkuscheln und die Decke über die Ohren ziehen – mit einem Vorhaben wie dem seinen im Kopf war das unmöglich. Gut schlafen, um fit zu sein für die Fahrt in den Tod. Er schauderte, als sich diese Worte in ihm formten, und griff nach einer Zigarette, um sie zu verscheuchen. Wenn er jede Geschmacklosigkeit vermeiden wollte, so war es strenggenommen unmöglich, dachte er, noch irgend etwas anderes zu tun als das, was die Durchführung des schrecklichen Plans zwingend verlangte. Alles, was darüber hinausging, war ein Hohn, ein Zynismus, selbst wenn es nicht so gemeint war und niemand außer ihm es sah.
Er wußte nicht recht, warum, aber das schien ihm vor allem für das Lesen zu gelten, für den Wunsch, sich in ein Buch zu vertiefen. Gerne hätte er noch einmal Robert Walsers Erzählung aufgeschlagen. Wenigstens berühren hätte er sie mögen. Aber schon das war zuviel. Bücher waren nun verbotene Gegenstände. Es kam ihm vor, als würden durch diesen schneidenden Gedanken auch noch die letzten Verbindungen zur Welt gekappt. Dort auf dem Bett, in seiner unbequemen Stellung, in der ihm Rücken und Hals weh zu tun begannen, fühlte er sich wie auf einer Insel, auf der ihm, abgeschnitten von allem, nichts anderes mehr zu tun blieb, als still zu sitzen, bis es soweit war.
Er begann, den Weg durch Genua zu rekapitulieren. Rechter Hand zunächst die Industrieanlagen mit dem weißen Rauch, dann die ersten Hafenkräne. Auf keinen Fall schon bei der ersten Eisenwarenhandlung abbiegen. Aber Vorsicht: Wenn die erste kam, waren es keine dreihundert Meter mehr. Bei den Säulen nicht der Straßenbahntrasse folgen, sondern nach links fahren. Die Stelle mit der aufgerissenen Straße und der Umleitung, an der er sich zweimal verfahren hatte, war besonders tückisch, weil die Ausweichstraße um den kleinen Platz mit den Kinderspielplätzen herum eine derart natürliche, geradezu zwingende Kurve beschrieb, daß man die Abzweigung mit dem Umleitungsschild, die zudem durch ein vorstehendes Haus halb verdeckt war, zu spät sah, und dann war man in einem Labyrinth von Einbahnstraßen, aus dem man nur schwer hinausfand. Man mußte sich, wenn man an den Platz kam, ganz rechts halten, um die anderen vorbeizulassen, und dann kam es darauf an, die Bäckerei in dem gelben Haus frühzeitig ins Auge zu fassen und zu bremsen, auch wenn es noch gar nicht nach einer Abzweigung aussah. Und schließlich noch die Sammelstelle der Busse: Ganz links einordnen, damit man nicht vom Verkehrsstrom in die Unterführung gezwungen wurde, das war morgen im beginnenden Stoßverkehr besonders wichtig.
Sonst konnte eigentlich nicht viel passieren, sagte er sich. Da fiel ihm ein, daß er nicht mehr wußte, ob er bei dem großen Platz mit der Säule die zweite oder dritte Abzweigung nehmen mußte. Das war etwas, was er sich nicht ausdrücklich gemerkt hatte. Vermutlich, weil es eindeutig schien. Aber war es das wirklich? Er fing an zu schwitzen, und für eine Weile dachte er daran, jetzt sofort hinzufahren und sich zu vergewissern. Doch nach drei Tagen und Nächten, in denen eine Angst die andere gejagt hatte, war dieser letzte Schreck, wenn er auch im Vergleich gering war, einfach zuviel. In Perlmann erlosch alles Gefühl, und ohne daß er es merkte, glitt er unter die Bettdecke.
Es war die vielleicht hundertste Münze, die abrutschte und durch den Schlitz in den Kasten fiel. Der Gurt hätte durch das viele Metall eigentlich längst von unten her blockiert sein müssen, aber er lief so schnell und glatt wie ein Keilriemen und schnitt ihm in den Finger, so daß er diese Hand nicht benutzen konnte, um zu verhindern, daß er kopfüber vom Gitterzaun in den roten Nebel
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