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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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eine Filmkulisse aus Pappe, spielend leicht durchbohrte. Er trat ein paar Schritte in den rötlichen Nebel zurück und ging dann langsam auf die Front des Wagens zu, in Gedanken am Steuer, mit dem Fuß auf dem Gas.
    Er fror, seine Kleider waren klamm, und das Bein in der zerfetzten Hose war eiskalt. Seine Nase lief, und es nützte überhaupt nichts, daß er sie mit dem letzten sauberen Zipfel des Taschentuchs putzte. Nachher, als er zum nächsten Wagen ging, lief sie schon wieder. Der Zwang weiterzumachen wurde in dem Maße stärker, als das Gefühl für die Absurdität seines Tuns wuchs. Er war mittlerweile zu müde, um all die Lastzüge nach dem Benzintank abzusuchen. Seine Untersuchungen wurden immer sparsamer, und schließlich begnügte er sich damit, die Stoßstangen abzutasten. Anfänglich tat er das noch, indem er, die nutzlose Brille in der linken Hand, mit zusammengekniffenen Augen hinsah und einen neuen Typ von Stange mit den bereits bekannten verglich. Später, als er das Gefühl für die Anzahl der Wagen längst verloren hatte, strich er mit der rechten Hand nur noch leicht über das feuchte Metall. Immer seltener hielt er an, und schließlich verfiel er in einen Trott mit einem von Stange zu Stange hüpfenden Arm, es war ein bißchen wie auf dem Schulweg, wenn er, unterbrochen durch die Lücken für die Hauseingänge, über die schwarzen Eisenzäune des Hamburger Viertels gestrichen hatte.
    Erst als er auch noch den letzten Wagen kurz berührt hatte, machte er kehrt. Der Nebel war jetzt dicht wie ein Tuch, auf das man bei jedem Schritt mit dem Gesicht zu stoßen meinte. Gerne hätte er noch einmal den Wagen mit den riesigen Metallbalken berührt. Aber der Nebel hatte ihm jedes Gefühl für Entfernung genommen, und für einen Augenblick, in dem er, blind hinter der vollständig beschlagenen Brille, allen Boden unter den Füßen zu verlieren schien, war er nicht mehr sicher, ob es diesen Wagen überhaupt gab.
    Er rutschte zweimal ab, bevor er schließlich eingeknickt, mit dem Kopf nach unten, oben über dem Gitterzaun hing. Das Taschentuch, vor dem er sich ekelte, hatte er weggeworfen, der verletzte Finger brannte, und die Nase lief so heftig, daß er angewidert dazu überging, den Rotz mit der bloßen Hand herauszuschneuzen. Das letzte Stück ließ er sich einfach fallen und war froh, daß es nicht noch mehr weh tat.
    Er fürchtete, sein Auto nicht wiederzufinden. Doch plötzlich, ohne jeden Übergang, war das Nebeltuch weg, er stand in einer sternklaren Nacht und sah den Lancia sofort. Zuerst zögerte er, sich mit den feuchten, verschmutzten Kleidern auf das elegante, makellose Polster zu setzen. Dann schluckte er einige Male, glitt ermattet hinter das Steuer und stellte die Heizung auf die höchste Stufe. Viertel nach sieben. In zwanzig Stunden wartet er hinter dem Zoll auf das Gepäck. Oder er tritt gerade heraus und sieht mich.
    Nach Santa Margherita nahm Perlmann die Autobahn und kümmerte sich um keine Geschwindigkeitsbegrenzung. Er wollte aus den Kleidern und unter die Dusche. Die körperlichen Bedürfnisse bleiben die gleichen, sie sind stärker als alles andere. Die hohe Geschwindigkeit half ihm, an nichts zu denken. Es war zehn nach acht, als er den Lancia bei der Tankstelle neben dem Hotel parkte. Bevor er auf die Freitreppe zuging, warf er einen Blick zurück. Die Reifen waren voll von hellem Lehm.

32
     
    In der Halle lief er den Kollegen in die Arme, die mit Angelini vor dem Speisesaal standen. Sie sahen ihn verblüfft und erschrocken an.
    «Was haben Sie denn angestellt?»fragte von Levetzov und deutete auf Perlmanns Hosenbein, an dem das ausgefranste Dreieck des eingerissenen Stoffs nach außen hing und bei jeder Bewegung wippte.
    «Ich habe jemandem bei einer Autopanne geholfen und mußte dazu unter den Wagen kriechen», sagte Perlmann ohne Zögern,«und da bin ich an etwas hängengeblieben. »Er hatte keine Ahnung, woher dieser Satz kam, es war, als stünde ein unsichtbarer Bauchredner neben ihm.
    «Ich wußte gar nicht, daß Sie so etwas können», sagte Millar mit geneigtem Kopf, und man konnte ihm ansehen, wie groß der Widerwille war, sein Bild von Perlmann zu revidieren.
    «Oh, doch», lächelte Perlmann und fühlte erleichtert, daß er wieder Herr seiner Äußerungen war,«von Autos verstehe ich etwas.»
    So unbekümmert, so hemmungslos hatte er in seinem ganzen Leben noch nie gelogen. Ein ungestümes Freiheitsempfinden breitete sich in ihm aus, ein Gefühl von spielerischer

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