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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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für sie ohne Zusammenhang mit den Wörterbüchern bleiben.
    Andererseits: Warum hatte Perlmann diese Lexika hier stehen – noch dazu, wo das russisch-englische ein solcher Wälzer war -, wenn doch weit und breit keine russischen Texte zu sehen waren?
    Perlmann wußte nicht mehr, welcher Verdacht wahrscheinlich war und welcher nicht, er gab das Mutmaßen auf und wußte plötzlich nur noch dies: Er wollte keine kyrillischen Buchstaben zurücklassen, keinen einzigen. Niemand sollte ihn mit der russischen Sprache in Verbindung bringen, und wenn es Erinnerungen an diese Verbindung gab, sollten sie möglichst schnell verblassen. Sein Blick ging zwischen den vier Büchern und dem vollgestopften Handkoffer hin und her; dann drehte er den Koffer kurz entschlossen um und kippte den Inhalt aufs Bett. Die zerknüllten und eingerissenen Blätter türmten sich über der Wäschetüte zu einem Berg, und ein Teil der Blätter segelte zu Boden. Er packte die Bücher in den Koffer, zog die gewöhnliche Jacke an und ging hinunter zum Hinterausgang. Die Tür war noch verschlossen. Mit einer Entschlossenheit, die kein anderes Gefühl aufkommen ließ, durchquerte er daraufhin die Halle, nickte Giovanni zu, der gerade telefonierte, und ging über die Freitreppe hinunter zum Parkplatz der Tankstelle.
    Abgeschirmt durch den hochgeklappten Deckel des Kofferraums verstaute er die Bücher unter der Platte, die das Reserverad verdeckte. Einen Moment lang war er beunruhigt darüber, daß die Platte wegen des dicken Lexikons nicht mehr richtig auflag und ein bißchen wackelte; dann unterbrach er sich unwirsch und ging mit raschen Schritten zurück durch die Hotelhalle zum Aufzug. Während er wartete, kamen Ruge und von Levetzov die Treppe herunter, auf dem Weg zum Frühstück. Sie waren überrascht, ihn so früh schon zu sehen, und warfen einen fragenden Blick auf den Handkoffer.
    «Bis nachher», sagte Perlmann mit fester Stimme und verschwand im Lift.
    Oben stopfte er die Wäsche und das Papier wieder in den Koffer und holte den Ausdruck der Übersetzung unter den Hemden in der oberen Wäscheschublade hervor. Wo sollte er ihn hintun? Am natürlichsten wäre der Schreibtisch. Aber dem stand eine Empfindung im Wege, die sich ihm nur allmählich aufschloß: Er wollte nicht, daß die Blicke der Eintretenden, mochten es die Kollegen, das Hotelpersonal oder die Polizei sein, als erstes auf den verhängnisvollen Text fielen. Er würde ihnen nichts verraten können, der Text, rein gar nichts, sie mochten ihn tausendmal lesen und ihn anstarren, solange sie wollten. Und doch wollte er nicht, daß dieser Stoß Blätter, der ihn zum Mörder werden ließ und in den Tod trieb, als Blickfang auf der Glasplatte des Schreibtischs lag-auch wenn jeder einzelne der anderen ja genau den gleichen Stoß in Händen hielt.
    Er wollte es auch wegen Kirsten nicht. Der betrügerische Text sollte nicht das erste sein, was sie fand, wenn sie kam, um seine Sachen abzuholen. Auch ihr würde er nichts verraten können. Und ebensowenig Martin. Aber wenn er auf dem Schreibtisch lag, würde sie ihn sofort in die Hand nehmen. Das letzte, was Papa geschrieben hat. Sie würde den Titel wiedererkennen und sich an die Verstimmung erinnern, die es vor einer Woche gegeben hatte, als er auf ihre Idee mit der Reiselektüre so ungeduldig reagiert hatte. Die Vorstellung war unerträglich. Perlmann blickte sich im Zimmer um. Schließlich schob er den Text in die Schreibtischschublade unter das Telefonbuch.
    Gleich war es halb neun. Er rechnete nicht mehr. Jetzt hatte er es im Gefühl, wieviel Zeit ihm noch blieb. Minutenlang dachte er an gar nichts, blickte einfach nur hinaus in das noch bleiche Sonnenlicht über der Bucht. Er hätte gerne gewußt, wie man das machte: von einem Ort Abschied nehmen, um in den Tod zu gehen. Er dachte, daß alles, was er sah, nun eine besondere Qualität haben müßte. Es müßte klarer sein und ruhiger, weil man in diesem Moment nichts mehr auf die Dinge projizierte – weil man selbst keinen Gefühlsschatten mehr warf, der einem die Sicht verdunkelte. Denn durch den Entschluß zu sterben hatte man sich vollständig aus der Welt zurückgenommen, die Verstrickungen hatten ihre Macht über einen verloren, man stand daneben und konnte alles ganz unverstellt sehen. Damit kam man so nahe wie nur möglich an den Standpunkt der Ewigkeit heran. Das war es, was man gewann, wenn man bereit war, alles einzusetzen.
    Doch nach einer Weile gestand er sich ein, daß er

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