Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Wissen überkam ihn die Angst, die Wirkung des Alkohols könnte bis morgen, wenn es darauf ankam, noch nicht abgeklungen sein. Und in diese Angst mischte sich eine Empfindung, die er nicht gleich erkannte: ein schlechtes Gewissen, nicht wegen der geplanten Tat, sondern weil er am letzten Abend seines Lebens angetrunken war. Es war mühsam, darüber nachzudenken, denn gleichzeitig mußte er gegen eine lauernde Übelkeit ankämpfen. Und als er schließlich wußte, was es war, steigerte die Entdeckung seine Verzweiflung noch. Denn sie bedeutete ja, daß eine perverse Verschiebung der Werte in ihm stattgefunden hatte: Er fand es verwerflich, daß er in Erwartung des Todes nicht auf die gebotene Nüchternheit und Wachheit geachtet hatte; er warf es sich vor, wie ein Todkranker es sich vorwerfen mochte, dem es wichtig gewesen wäre, bis zuletzt ganz bei sich selbst zu sein. Das Monströse, das Verbrecherische seines Plans dagegen hatte er bereits so vollständig von sich abgespalten – oder aber er hatte sich innerhalb eines Tages schon so sehr daran gewöhnt -, daß es kein Gegenstand eines Selbstvorwurfs mehr war und auch in diesem Augenblick, wo er es innerlich erwähnte, in seinem Gewissen keinerlei Wellen schlug, auch dann nicht, als er sich diese kalte, abstoßende Tatsache vorwarf und mit Schaudern zusah, wie der Vorwurf an seiner Unempfindlichkeit lautlos abglitt.
Als die Spirale der Selbstbeobachtung mit dem erneuten Kreisen des Zimmers verschmolz, hielt er es nicht mehr aus und ging unter die kalte Dusche, bis er schlotterte. Danach, unter der Bettdecke, wurde es besser. Er stand noch einmal auf, tat mechanisch ein Pflaster auf den brennenden, blutunterlaufenen Finger und nahm ein frisches Taschentuch mit ins Bett, um das erneute Laufen der Nase endlich zum Stillstand zu bringen. Das Zimmer drehte sich nicht mehr, und die Übelkeit wich einer Ermattung, die er als erlösend empfand. Nur das Blut pulsierte laut. Er lauschte seinem Klopfen und glitt in einen Halbschlaf, aus dem er erwachte, weil ihn die Deckenbeleuchtung störte.
Es war halb zwölf. Sein Kopf war wieder klar. Er setzte sich an den Schreibtisch und schrieb Kirstens Telefonnummer in großen, überdeutlichen Zahlen auf einen Zettel, darunter ihren vollen Namen und ihre Adresse in Konstanz.
Es hatte keinen Sinn, sie anzurufen. Er wußte nicht, was er ihr hätte sagen können. Nicht einmal die gewohnten Sätze, die sie jedesmal tauschten, wollten ihm einfallen.
Er setzte sich aufs Bett und wählte ihre Nummer. Sie meldete sich nur mit«Kirsten». In der Stimme war noch ein Lachen, offenbar hatte sie Besuch und kam gerade aus einem scherzhaften Gespräch.
Perlmann legte auf. Er versuchte sich zu erinnern, was sie als letztes gesagt hatte, als sie vor drei Tagen telefoniert hatten. Es war etwas Heiteres, Übermütiges gewesen, ja richtig, die Grüße an Silvestri. Aber nicht zu freundlich!
Für ihr Studium war gesorgt, und das Geld würde auch noch einige Zeit darüber hinaus reichen. Das wußte er ohne nachzudenken. Trotzdem ging er die Summen noch einmal durch, die Sparbücher, die paar Aktien, die Lebensversicherung, auf der Agnes bestanden hatte.
Agnes. Er löschte das Licht. Sie, die stets etwas herber empfunden hatte als er, hätte ihm geraten einzugestehen, daß er im Moment nichts vorzuweisen hatte. Neulich auf dem Schiff war er zutiefst überzeugt gewesen, daß ein solcher Rat nur von jemanden kommen könnte, der die Welt der Universität nicht aus eigenem Erleben kannte; und deshalb war er ihm wertlos erschienen. Jetzt, kurz vor dem Ende, schien es ihm der einzig richtige Rat zu sein.
Der Betrug hätte für immer zwischen ihnen gestanden, dachte er. Aber es war nicht ausgeschlossen, daß sie ihn darin noch irgendwie hätte verstehen können. Auch sie hätte darin vielleicht eine Art Notwehr sehen können. Und daß ihm nach dem Telegramm der Gedanke an Selbstmord kam, hätte sie zwar für idiotisch gehalten, für eine verbohrte männliche Überreaktion; aber verurteilt hätte sie ihn deshalb nicht. Daß er hingegen fähig war, den abgefeimten Mordplan auszuhecken – das hätte nur noch Entsetzen und Abscheu bei ihr hervorgerufen, sie wäre zurückgewichen und hätte ihn ungläubig angesehen wie ein Monster.
Er machte Licht. Auf einmal war er gar nicht mehr sicher zu wissen, wie sie wirklich empfunden hätte. Er holte ihr Bild aus der Brieftasche. Hätte er sich ihr in seiner Not anvertraut? Hätte sie ihn vor der Katastrophe bewahren
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