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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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machte: Am liebsten hätte er nicht eine einzige Münze bei sich getragen, wenn er den Wagen schließlich zum letztenmal starten würde.
    Als nächstes sah er den Koffer durch. Er stopfte den Schlafanzug in die Plastiktüte mit der schmutzigen Wäsche und knotete die Tüte zu. Aber die Tüte ließ ihm keine Ruhe. Er nahm die Fachbücher aus dem Handkoffer und stopfte die Tüte hinein. Er würde sie unterwegs wegwerfen.
    Eine Weile sah er auf die Fachbücher hinunter, die verstreut auf dem Bett lagen. Dann begann er, sie auf dem Schreibtisch aufzubauen.
    Draußen wurde es langsam hell. Jetzt wird er bereits in der Luft sein. Perlmann holte den russischen Text und die handschriftliche Übersetzung aus der unteren Wäscheschublade. Die Blätter mit dem ungewohnten Format und den schlecht kopierten kyrillischen Buchstaben stopfte er neben die Wäschetüte in den Handkoffer. Die Übersetzung hielt er unschlüssig in der Hand und setzte sich dann aufs Bett. Sie nahmen an, daß er den Text hier geschrieben hatte, man wußte, daß er am liebsten von Hand schrieb, und es wäre deshalb das Natürlichste, wenn die handschriftliche Fassung gefunden würde. Er blätterte in dem dicken Stoß. Waren Korrekturen, die im Prozeß des Übersetzens gemacht wurden, nicht von anderer Art als diejenigen, die man beim Verfassen machte? Da gab es zum Beispiel die vielen Stellen, an denen mehrere Varianten eines Worts oder Satzes durch Schrägstriche voneinander getrennt waren, und am Schluß hatte er alle bis auf eine durchgestrichen. Vielleicht würde man annehmen, er sei jeweils im Englischen unsicher gewesen; oder sie würden ihn für einen fanatischen Stilisten halten. Aber wenn einer genau hinsah und nachdachte, konnte es ihm schon merkwürdig vorkommen, zumal es nirgendwo so etwas gab wie gedankliche Korrekturen, die sich in durchgestrichenen Absätzen, größeren Einfügungen und Umstellungen zeigen würden.
    Es war zu gefährlich. Er mußte auch diesen Stoß mitnehmen und unterwegs wegwerfen. Zwar hatten die meisten Leute, die mit einer handschriftlichen Fassung begannen, eine sentimentale Anhänglichkeit an diesen Text; aber er kannte auch andere, die das Manuskript wegwarfen, wenn der Computerausdruck da war. Er quetschte auch dieses Papier in den Handkoffer neben die Wäsche. Dabei knickte ein Teil ab, verfing sich in den russischen Seiten, es gab Risse, und dieses Geräusch des reißenden Papiers wirkte wie ein auslösendes Signal auf seine Gefühle, oder wie ein Katalysator. Eine ohnmächtige Wut brach aus ihm heraus. Blind vor Tränen faßte er mit beiden Händen in die Papiermasse hinein wie in Teig, er knüllte, riß und drosch mit den Fäusten auf die Blätter ein, bis ihm der Atem ausging und er keuchend, mit hochrotem Gesicht und einem Kopf, der wie verrückt juckte, innehielt.
    Er wusch sich das Gesicht, und nachdem er in kleinen, langsamen Schlucken eine Tasse des kalt gewordenen Kaffees getrunken und am offenen Fenster eine Zigarette geraucht hatte, konnte er weitermachen. Was er ebenfalls fortschaffen mußte, war das Vokabelheft. Er nahm es zur Hand, und ähnlich einem übermüdeten Körper, der sich gegen allen Willen kurze Phasen des Schlafs einfach nimmt, ertrotzte sich Perlmanns Seele, ohne daß er etwas dagegen hätte tun können, eine Atempause, indem sie ihn seine Lage vergessen machte und der Neugierde freien Lauf ließ. Er deckte mit der einen Hand die englischen Spalten ab und prüfte, wie viele Wörter er auswendig wußte, dann tat er dasselbe in der anderen Richtung. Erst nach mehreren Minuten holte ihn das Bewußtsein seiner Situation ein, er fühlte sich ertappt und riß das Vokabelheft nach zwei vergeblichen Anläufen in der Mitte durch, bevor er es zu dem anderen Papierwust in den Handkoffer steckte.
    Die drei Wörterbücher und die russische Grammatik, übersät mit Unterstreichungen und Querverweisen. Sie würden, fände man sie hier, Erstaunen auslösen, denn angeblich konnte er ja kein Wort Russisch. Aber für sich genommen war das nichts Verdächtiges; man konnte es für Bescheidenheit halten, für Koketterie oder einfach für eine Marotte. Evelyn Mistral würde daran zurückdenken, wie sie ihn am Schwimmbecken mit dem russischen Text überrascht hatte und wie er ihr beim Abendessen einen verschwörerischen Blick zugeworfen hatte, als er log. Aber ohne weiteres Wissen konnte daraus kein gezielter Argwohn entstehen; die bloße Tatsache, daß der mit ihm verunglückte Leskov Russe war, mußte auch

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