Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Schrankenlosigkeit im Angesicht seiner ablaufenden Uhr. Er war jetzt bereit, schlechterdings alles über sich zu erfinden, jede Geschichte war ihm recht, je kühner, desto besser.
«Ich war früher nämlich ein guter Rallyefahrer, da erwirbt man sich nebenbei eine Menge technischer Kenntnisse», fügte er hinzu und nahm dann auf der Treppe demonstrativ zwei Stufen auf einmal.
Die künstliche Hochstimmung, die er nur mühsam über das hastige Duschen und Umziehen hinweggerettet hatte, festigte sich wieder, als er seine Geschichte mit der Panne beim Essen ausschmückte und als Fahrerin des fraglichen Wagens eine Frau erfand, welcher er die Eigenschaften einer hiesigen Fernsehansagerin andichtete. Locker und als sei es kaum der Erwähnung wert, flocht er den Mietwagen und eine Spazierfahrt in die Berge ein. Seine Geschichte, untermalt mit temperamentvollen Handbewegungen, die ihm fremd waren, veranlaßte auch die anderen zum Erzählen von Anekdoten. Es wurde viel gelacht, Perlmann lachte am meisten, er trank Glas um Glas und stürzte sich mit aller Macht in eine verzweifelte Ausgelassenheit. Daß sein Lachen jedesmal von neuem das Hindernis der Seele überspringen mußte, merkte er daran, daß es als ein deutliches Ziehen der Gesichtsmuskulatur fühlbar wurde, als ein mechanisches Geschehen, das eine unangenehme Hitze entwickelte. Für Augenblicke, die seinen Zustand eiskalt und schwarz zerschnitten, kam er sich wie eine raffinierte Puppe vor, ein Toter, der den anderen durch Lachen vormacht, er sei am Leben. Dann bat er den Kellner nachzufüllen, trank und lachte weiter, bis er wieder in die alte Stimmung zurückgefunden hatte, die ein bißchen wie unsichtbar verzogenes Glas war, das bei einem falschen Spiel der Kräfte in tausend Stücke zerspringen würde.
Laura Sand schien ihn schon eine ganze Weile beobachtet zu haben, als er ihren nachdenklichen Blick auffing. Er drehte sich um, winkte dem Kellner und bat um etwas mehr Brot. Nein, es ist ausgeschlossen, daß sie mich durchschaut. Sie mag mich heute abend etwas sonderbar finden, und vielleicht wird sie morgen abend, wenn es bekannt wird, daran denken. Aber auch sie weiß nichts, was zwischen den beiden Dingen einen Zusammenhang herstellen könnte. Rein gar nichts.
«Daß Signor Leskov nun doch noch ein paar Tage kommen kann, ist ja sehr erfreulich», sagte Angelini neben ihm und fügte nach einer ausdrucksvollen Pause hinzu:«Ich habe es von den anderen erfahren. »
Unter gewöhnlichen Umständen wäre Perlmann in die Falle gegangen und hätte beflissen eine Erklärung für sein Versäumnis vorgebracht. Jetzt war ihm nichts gleichgültiger als die Tatsache, daß er vergessen hatte, Angelini eine Nachricht zu hinterlassen.
«Haben Sie denn meine Nachricht nicht erhalten?»fragte er in kühlem, fast gleichgültigem Ton und nahm einen Schluck.
«Nein», sagte Angelini, jetzt wieder sehr verbindlich,«aber jetzt weiß ich es ja und werde mich darum kümmern, daß er Bargeld vorfindet, wenn er ankommt. Das ist bei Leuten in seiner Lage ja anders als bei uns. Übrigens», fuhr er dann leise auf italienisch fort und legte Perlmann die Hand auf den Arm,«man hat mir beim Empfang Giorgios Exemplar Ihres Texts gegeben, und ich habe auf dem Zimmer auch schon darin gelesen. Ich bin richtig gespannt, was Ihre Kollegen zu dieser doch ungewöhnlichen Arbeit sagen werden. Aber Sie werden sie ja sicher zu verteidigen wissen. »
«Sicher», sagte Perlmann und drehte den Kopf zum Kellner, der ihm den Kaffee brachte. Während er ihm überschwenglich dankte, als habe er soeben ein Riesengeschenk erhalten, erlosch alle gespenstische Heiterkeit in ihm, und er wußte nicht mehr, wie er es an diesem Tisch auch nur eine Minute länger aushalten sollte.
Die Fragen zu Leskov, die wie erwartet kamen, beantwortete er knapp und hoffte, daß niemand merkte, wie oft er nur deshalb an der Zigarette zog und zur leeren Kaffeetasse griff, weil er fürchtete, die Stimme werde ihn im Stich lassen.
Beim Hinausgehen wandte er sich noch einmal um. Hier also hatte sein letztes Abendessen stattgefunden. Lange mußte er einfach nur dagestanden haben, denn Evelyn Mistral, die ihm die Tür hielt, lehnte sich mit verschränkten Armen und gekreuzten Beinen wartend dagegen und sah ihn wie jemanden an, den man in seinen Gedanken nicht stören möchte.
«Gracias», sagte er heiser und ging rasch vorbei.
Das Zimmer kreiste, als Perlmann sich in den Kleidern aufs Bett fallen ließ. Wider besseres
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