Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
hinunterstürzte. Das Bein war steif und gefühllos vor Kälte, und er hinkte, als er unter fortwährendem Schniefen mit der Hand über die endlos vielen Stoßstangen strich, die sich zunächst trügerisch fest anfühlten, um dann plötzlich abzuknicken, als seien sie aus feuchtem Karton. Mit blind ausgestreckten Armen berührte er den Kühlergrill, der sich lautlos teilte, als er mit durchgedrücktem Gaspedal darauf zufuhr. Er raste hinein und fuhr durch widerstandslose rote Watte, in der sich der Lancia überhaupt nicht mehr steuern ließ, er lief wie auf Schienen, und alles Drehen am Lenkrad blieb wirkungslos. Dann war die Watte verschwunden, und der Wagen schleuderte in Schlangenlinien durch den Tunnel. Wie die elektrischen Autos auf der Kirmes prallte er links und rechts gegen die Planken, und plötzlich hörte und spürte er mit Entsetzen, daß seine eigene Stoßstange auf dem Asphalt scheuerte, er sah einen Funkenregen, der immer höher und dichter wurde, er wollte anhalten, aber der Wagen beschleunigte ganz von allein und raste direkt auf die riesenhaften, aufgeblendeten Scheinwerfer all der Lastwagen zu, die in einer breiten Front ohne den geringsten Zwischenraum auf ihn zurollten. Er schlug die Arme vor den Kopf, erwartete den Aufprall und erwachte ob der betäubenden Stille, die statt dessen eintrat.
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Er blieb nur so lange liegen, bis das Herzklopfen schwächer geworden war. Dieses Mal war das Aufwachen aus einem Alptraum ganz anders als sonst, denn die Erleichterung der ersten Sekunden wurde weggefegt von der hereinbrechenden Gewißheit, daß eine Szene ähnlich der letzten sich in wenigen Stunden in der Wirklichkeit wiederholen würde. Bevor dieser Gedanke seine lähmende Wirkung ganz entfalten konnte, machte Perlmann Licht und stand auf. Der Wecker zeigte kurz nach sechs, und mechanisch rechnete er die Zahl der verbleibenden Stunden aus. Vor der Dusche zögerte er und starrte ins Leere, dann ließ er kurz und sparsam kaltes Wasser über die Haut laufen. Beim Frottieren spürte er die Kopfhaut jucken, aber er stellte das Haarwaschmittel wieder zurück. Das war unmöglich. Im Bademantel telefonierte er nach Kaffee und schärfte dem verschlafenen Küchenmädchen ein, daß er sonst kein Frühstück wünsche.
Dann setzte er sich an den Schreibtisch. In seinem Kopf herrschte eine gefühllose, gläserne Wachheit, die alle inneren Stürme hinter sich ließ. Er begann mit den letzten Vorbereitungen, konzentriert und methodisch, als plane er eine Lehrveranstaltung oder eine längere Reise.
Er würde den Mord in den besten Kleidern begehen müssen, die er mithatte, in der dunkelgrauen Flanellhose und dem Blazer mit den goldenen Knöpfen, dazu die schwarzen Schuhe, die er seit dem ersten Abend nicht mehr getragen hatte. Denn nach dem Empfang noch einmal zurück ins Hotel und sich umziehen, das kam nicht in Frage. Sich bequemer anziehen für den Mord. Der Gedanke trieb ihm das Blut ins Gesicht, er biß sich heftig auf die Lippen und verbannte die Worte voller Abscheu aus dem Bewußtsein. Dann zog er die graue Hose und ein weißes Hemd an, hängte den Blazer an die Schranktür und legte die dunkelblaue Krawatte mit dem roten Muster bereit.
Es waren nicht nur das Lesen, das Essen und die Körperpflege, die unmöglich geworden waren, dachte er, als der Kellner die Tür hinter sich zugezogen hatte. Auch jemanden zu grüßen, ihm zu danken und ein Lächeln zu erwidern, waren Dinge, die sich jetzt auf die widerwärtigste Weise unaufrichtig anfühlten, zynisch, obszön. Milch und Zucker schob er beiseite, als er sich den Kaffee auf dem Schreibtisch eingoß. Nur mit dem Rauchen war es anders: Das Brennen auf der Zunge und das gelegentliche Stechen in der Lunge paßten zu Angst und Zerstörung.
Aus der Hotelmappe nahm er ein Werbekärtchen mit der Adresse, schrieb seinen Namen drauf und steckte es zum Paß in die Brieftasche. Der Benzintank war noch mehr als halb voll, dachte er und wehrte, indem er Daumen und Zeigefinger auf die Augäpfel preßte, die Vorstellung von Flammen ab. Die Parkgebühr am Flughafen und eventuell vor dem Rathaus, die Autobahngebühr, ein, zwei Kaffee. Sonst gab es nichts mehr, wofür er noch Geld brauchen würde. Er steckte einige kleine Scheine in die Jackentasche. Dann nahm er die Kreditkarten aus dem Steckfach der Brieftasche und schob sie zusammen mit den großen Geldscheinen in eine Innentasche des Koffers zu den Reiseschecks. Es war eine sonderbare Entdeckung, die er da an sich
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