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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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schmutzigen Hemdkragen. Vorhin, als er die Halle betreten und aus Versehen Evelyn Mistrals Hand berührt hatte, die ihm die Tür hielt, hatte er gedacht, er würde hier oben die gesamte Willenskraft, die ihm geblieben war, brauchen, um Sekunde für Sekunde dem übermächtigen Drang zur Flucht zu widerstehen. Inzwischen hatte der komische, ja groteske Verlauf des Empfangs ihn in einen Zustand heiterer, beinahe übermütiger Gleichgültigkeit versetzt, den er so lange wie möglich aufrechterhalten wollte, obgleich er sich unangenehm künstlich anfühlte, als sei eine Droge für ihn verantwortlich. Er mußte aufpassen, dachte er, daß er jetzt nicht etwas Unmögliches tat, wie beispielsweise dies: ganz dicht an den Bürgermeister herantreten und ihm mit einem «Permesso!» die verrutschte Krawatte zurechtziehen.
    Er hielt den Blick auf den Schreibtisch gesenkt, auf den, wie in einer Kirche, durch die hoch gelegenen Fenster Bündel von staubdurchsetzten Sonnenstrahlen fielen. Nur ein einziges Mal hob er den Kopf. Da fiel sein Blick auf Millar; der sich etwas weggedreht hatte und zum Fenster hinaussah. Perlmann konnte es zunächst nicht glauben, er suchte seine Gefühle noch einmal ab, aber der Haß auf Brian Millar war verschwunden, einfach nicht mehr da, vorbei wie ein Spuk. Und als er seinem Blick folgte und sah, daß Millar einen riesigen Luftballon mit einem aufgemalten, schmollenden Frauenmund aus knalligem Violett betrachtete, der träge über das Denkmal auf dem Platz trieb, da dachte er an Sheilas Kuß, und auf einmal mochte er diesen gutaussehenden Amerikaner mit seiner naiven Selbstsicherheit und dem aparten rötlichen Schimmer im dunklen Haar.
    Als ihre Blicke sich trafen, lächelte ihm Perlmann zu. Millar zögerte, dann verfinsterte sich sein Gesicht, und er hob irritiert die Brauen. Er schien zu glauben, Perlmann mache sich lustig über ihn. Doch dann sah er, daß Perlmanns anhaltendes Lächeln ein anderes Lächeln war, kein ironisches oder feindseliges. Er blinzelte zwei-, dreimal, faßte an die Brille und machte einen ersten, noch vorsichtigen Versuch zurückzulächeln. Dabei stand ihm noch Skepsis im Gesicht, und erst nach einem weiteren Zögern fielen seine Züge in ein entspanntes, gelöstes Lächeln, das zu einem breiten, warmen Grinsen wurde, wie Perlmann es an ihm noch nie gesehen hatte. Er ist auch froh, genauso froh wie ich. War dieser Haß nötig?
    Daß der Bürgermeister aufgehört hatte zu reden, merkte Perlmann erst, als er sich demonstrativ räusperte. Er hatte aus der Schachtel eine goldene Medaille genommen, die an einem Stoffband in den Farben des Stadtwappens hing. Nun trat er mit einem Ausdruck lächerlicher Feierlichkeit an Perlmann heran, der sich weit nach vorn beugte, um eine Berührung mit seinem Bauch zu vermeiden. Der Bürgermeister streifte ihm das Band über und überreichte ihm dann die entrollte Urkunde, auf der er zum Ehrenbürger der Stadt erklärt wurde. Dann schüttelte er ihm endlos lange die Hand, wobei er auf italienisch die üblichen Floskeln sagte. Zu Perlmanns Ärger fing Angelini jetzt an zu klatschen und klatschte so lange unverdrossen weiter, bis die anderen einfielen, zaghaft und offenbar peinlich berührt von soviel leerer Konvention. Aber die Erleichterung über den losgewordenen Haß auf Millar trug Perlmann noch eine Weile mit sich fort, er hielt eine kleine Dankesrede, und es gelang ihm sogar ein Scherz. Diese Erleichterung und die Andeutung von Gegenwart, die sie in sich barg, schwemmten alles andere weg, er tauschte ein Lächeln mit Evelyn Mistral, und für einen Augenblick war es, als sei endlich wieder alles in Ordnung. So unglaublich es ihm nachher im Auto vorkam: Er vergaß ganz einfach, daß er in weniger als vier Stunden einen Mord begehen und seinem Leben ein Ende machen würde.
    Das goldene Buch der Stadt war in rotes Leder gebunden und hatte die beiden Löwen des Wappens in feinen schwarzen Linien eingestanzt. Der Bürgermeister hatte es aus dem Schreibtisch hervorgeholt und bat nun alle näherzutreten und sich einzuschreiben. Perlmann setzte sich als erster auf den Stuhl mit der hohen Lehne, rückte ihn näher an den Schreibtisch und zog das geöffnete Buch zu sich heran. Automatisch faßte er links in den Blazer, aber da war kein Stift. Er versuchte es noch rechts und in den Außentaschen und wollte gerade seine Bitte aussprechen, da wurde ihm von oben ein Füllfederhalter gereicht. Als er am Arm entlang hochblickte, sah er zunächst nur von

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