Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
im Kopf hatte jeden Versuch, es sich vorzustellen, versanden lassen.
Jetzt setzte er den Handkoffer ab und schob den schweren Deckel des Containers mit beiden Händen nach hinten. Ein beißender Geruch von vermoderndem Gemüse schlug ihm entgegen. Der halbe Container war voll von braunem, fast schon schwarzem Kohl, der einen warmen, stinkenden Dunst ausströmte. Perlmann machte den Koffer auf und sah sich um. Es war vollkommen gleichgültig, ob die Frau am Steuer des ankommenden Wagens es sehen würde oder nicht. Trotzdem ließ er sie vorbeifahren, ehe er die Wäschetüte und die beiden gefährlichen Texte auf den Kohl kippte. Dann sah er mit zugehaltener Nase gebannt zu, wie die Blätter die dunkle Schmiere, die sich zwischen den Kohlköpfen gebildet hatte, aufsaugten. So ähnlich hatte er sich die spätere Vernichtung des betrügerischen Texts vorgestellt, als er in Portofino auf dem Bett lag. Was ihn dort gequält hatte, kam ihm jetzt wie eine Lappalie vor, kaum der Rede wert, und er hätte alles darum gegeben, wenn sich die Zeit um diese achtundvierzig Stunden hätte zurückdrehen lassen.
Aus dem Kofferraum holte er die vier Bücher. Als erstes warf er den gelben Langenscheidt auf den stinkenden Kohl. Beim Aufprall gurgelte es träge. Jetzt das russisch-italienische Wörterbuch. Perlmann zuckte zurück, als der dunkle Saft aufspritzte. Dann kam das große, rote Lexikon. Es traf halb geöffnet auf den braunen Brei, und das gräuliche Papier fing sich sofort an zu wellen. Am längsten zögerte er bei der Grammatik. Er schlug sie auf und blätterte. Es gab da verschiedene Schichten von akribischen Randnotizen, zeitlich gestaffelte Ablagerungen von Aneignungsarbeit, die man an der unterschiedlichen Tinte erkennen konnte. Wenn man aus einer gewissen inneren Distanz heraus, mit halbgeschlossenen Augen, darauf blickte, so war es, als sähe man durch einen langen Erinnerungskorridor hindurch weit in die eigene Vergangenheit hinein. Was er hier in der Hand hielt, dachte er, war etwas vom Echtesten, Wirklichsten, was es in seinem Leben gegeben hatte. Zu Hause, in Agnes’ Bücherregalen, die immer noch vollständig unberührt waren, gab es die gleiche Grammatik noch einmal. Als Perlmann merkte, wie ungereimt es war, sich an diesen Gedanken zu klammern, klappte er das Buch mit forcierter Entschiedenheit zu und warf es hinein. Noch ehe er das dumpfe Geräusch des Aufschlags hörte, hatte er sich schon abgewandt.
Er stellte den leeren Handkoffer zurück auf den Rücksitz. Die Medaille und die Urkunde. Er hatte sie schon in der Hand und machte einen Schritt auf den Container zu, da hielt er inne. Nein, natürlich nicht. Sie müssen im Auto gefunden werden. Er setzte sich ans Steuer.
Die vielen Tunnel auf der Strecke waren eine Tortur. Gestern abend im Dunkeln war es ihm nicht so gegangen, jetzt aber sah er in jedem Lichterpaar, das auf der Gegenfahrbahn aus dem Tunnel kam, einen Lastwagen. Er war froh über die staubigen Sträucher und die beiden Leitplanken zwischen den Fahrbahnen. Trotzdem bekam er vor jedem Tunnel Herzklopfen. Einen kurzen Moment lang wünschte er, die beiden Fahrtrichtungen würden auch oben am Berg, wo er nachher mit Leskov entlangfuhr, durch zwei verschiedene Tunnel laufen. Es war kein Wunsch, der zu einem Gedanken wurde, und er hinterließ im Gedächtnis keinerlei Spur.
Beim Aussteigen am Flughafen merkte er, daß der Blazer am Rücken klatschnaß war und an der ledernen Sitzlehne klebte. Er schloß ab und war schon einige Schritte gegangen, da drehte er um und ging noch einmal zurück zum Auto. Es war besser, die Handbremse jetzt schon zu lösen. Nachher war da Leskovs Bein. Es war das letzte Mal, dachte er, als er den Hebel nach unten drückte.
Als sein Blick beim Betreten der Ankunftshalle auf die Digitaluhr an der Wand fiel, zeigte sie gerade noch 14.00 an. Doch einen winzigen Augenblick später, noch in der Spanne desselben Blicks, wechselte die Anzeige auf 14.01. Die Ziffer 01 und die Wahrnehmung ihres lautlosen Erscheinens wirkten auf Perlmann wie ein Signal: Die ihm verbleibende Zeit ließ sich nun bereits in Minuten ausdrücken. Er spürte das Blut pochen, und die freudigen Ausrufe der gerade ankommenden Passagiere und wartenden Kinder drangen nur wie aus weiter Ferne zu ihm, während er auf die Uhr starrte, bis es fünf nach zwei war. Dann stellte er seine Armbanduhr. Es war ihm nicht möglich, sich gegen die vollständige Sinnlosigkeit dieses Tuns zu wehren.
Der Flug aus Frankfurt war
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