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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Levetzov; doch dann wurde ihm mit einem Schlag bewußt, daß sie alle im Halbkreis um den Schreibtisch herumstanden und auf ihn herunterblickten. Und während er den Füller aufschraubte, entdeckte er, daß inzwischen auch einige Angestellte den Raum betreten hatten und ihm aus der zweiten Reihe zusahen.
    In diesem Moment stürzte in ihm alles ein, was ihn seit Beginn des Empfangs aufrechterhalten hatte. Er spürte, wie er im Brennpunkt der vielen Blicke erstarrte, die Nase begann zu laufen, die Hand, die den Füller hielt, schien gefühllos vor Kälte, und als er zum Schreiben ansetzen wollte, sah er zu seinem unbeschreiblichen Entsetzen, daß sie zitterte wie bei einem heftigen Schüttelfrost. Zwei, drei Sekunden lang versuchte er vergeblich, die Hand zur Ruhe zu bringen, indem er den Unterarm an die Tischkante preßte. Dann legte er den zitternden Füller mit einem lauten Klappern neben das Buch und holte das Taschentuch aus der Hosentasche. Während des Schneuzens schloß er die Augen und versuchte, sich beim Ausatmen zu entspannen. Dabei kam es ihm vor, als würde dieses Schneuzen, das doch ganz allein seinem eigenen Willen unterworfen war, niemals mehr aufhören, es war wie der Beginn eines endlosen Schneuzzwangs, durch den sich die Zeit dehnte, bis sie fast stillzustehen schien.
    Verbissen, als müsse er die Bewegung fremden Mächten abtrotzen, stopfte er das Taschentuch schließlich wieder in die Tasche, wo er die Hand zur Faust ballte, um sich zu vergewissern, daß sie ihm wieder gehorchte. Dann nahm er Anlauf, ergriff den Füller in einer fliegenden Bewegung und führte ihn so rasch er konnte über das Papier, wobei er nur das P richtig ausschrieb, das e nur noch andeutete und die restlichen Buchstaben in einer einzigen Linie einebnete, die vom Druck auf die Feder in der Mitte einen feinen weißen Strich aufwies. Es war nicht seine Unterschrift, sie war ihr nicht einmal ähnlich. Es war eigentlich überhaupt keine mögliche Unterschrift für seinen Namen, denn sie enthielt nicht einmal andeutungsweise eine Erhöhung für das l. Auch sah er, als er den Füller automatisch wieder zuschraubte, daß sie lächerlich schräg verlief und auf der frischen Seite viel zu tief begann. Und bei einer solchen Gelegenheit, dachte er im Aufstehen, unterschrieb man natürlich mit dem vollen Namen. Er vergaß, von Levetzov den Füller zurückzugeben, ließ ihn einfach liegen und zog sich, ohne irgend jemanden anzublicken, in die Ecke neben der Tür zurück, wo er unter dem überraschten Blick eines Angestellten eine Zigarette anzündete.
    Als der Sekt gereicht wurde, kamen die Kollegen zu ihm, um die Medaille aus der Nähe zu betrachten. Über seine zitternde Hand fiel kein einziges Wort, und auch in den Blicken konnte er nichts Besonderes entdecken. Das Band mit der Medaille wanderte von Hals zu Hals, die Scherze über die ganze Zeremonie wurden immer frivoler und alberner, und einmal klopfte Millar Perlmann lachend auf die Schulter. Perlmann gab sich Mühe nicht aufzufallen und lachte mit, es war ein Lachen ohne inneres Echo, ein Lachen mit Anlauf, eine Art Gesichtsgymnastik. Plötzlich aber spürte er Tränen, die nicht mehr aufzuhalten waren. Er war froh, daß Ruge einen eben gemachten Scherz noch überbot, drehte sich zur Seite und gab vor, sich vor Lachen zu biegen. Während er sich wieder aufrichtete, trocknete er sich, unterbrochen von einem gespielten Lachanfall, die Tränen ab.
    Als die Heiterkeit schließlich ausklang, merkten sie etwas verlegen, daß sowohl der Bürgermeister als auch Angelini bereits gegangen waren. Außer ihnen waren nur noch zwei Angestellte im Raum, die mit leeren Gläsern in der Hand über etwas diskutierten.
    Perlmann sah zur Uhr über der Tür: zwanzig nach zwölf. Jetzt wird er in Frankfurt sein. Wieder begann ihm die Nase zu laufen, das Taschentuch fiel auf das glänzende Parkett, und als er sich aufrichtete, wurde ihm einen Augenblick lang schwarz vor den Augen. Er war schon hinter den anderen an der Treppe, da berührte ihn Laura Sand am Arm und reichte ihm mit einem spöttischen Lächeln die vergessene Urkunde. Während sie nebeneinander die Treppe hinuntergingen, sagte sie unvermittelt und ohne ihn anzusehen:
    «Ihnen geht es nicht besonders, nicht wahr?»
    Es war das erste Mal, daß sie etwas so Persönliches zu ihm sagte, und noch nie hatte er in der rauchigen Stimme einen so warmen Klang gehört. Mit aller Kraft stemmte er sich gegen die Tränen und zerdrückte dabei die Urkunde

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