Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Tisch und legte es daneben. Er hatte sich schon zur Tür gewandt, da drehte er um, tat das Feuerzeug zurück auf den runden Tisch und schubste es mit einem Finger, bis ihm die Lage zufällig genug vorkam.
Von der Tür aus ließ er den Blick noch einmal durch den Raum gleiten. Den weißen Papierrand, der unter der herunterhängenden Bettdecke hervorsah, bemerkte er erst im letzten Moment. Hastig zog er das Blatt hervor. Es war ein zerknittertes und eingerissenes Blatt des russischen Texts. Perlmann schlug die Bettdecke hoch, ging auf die Knie und untersuchte alles. Stets von neuem tastete sein Blick die gesamte Fläche unter dem Bett ab, als könnte sich zwischen zwei Durchgängen plötzlich ein neues Blatt materialisieren. Schließlich zog er die Decke wieder herunter, stopfte das Blatt in den Handkoffer und wartete, mit der Stirn an die Tür gelehnt, bis der Puls sich beruhigt hatte. Dann ging er ohne zurückzublicken hinaus.
34
In der Halle kam Millar auf ihn zu, der gerade ein Gespräch mit Signora Morelli beendet hatte. Er trug den dunkelblauen Zweireiher und die Krawatte mit dem gestickten Anker. Im Gesicht und den Bewegungen lag der Elan eines Organisators.
«Haben Sie daran gedacht, ein Exemplar Ihres Texts in Leskovs Fach legen zu lassen?»fragte er mit gehobenen Augenbrauen und im vorwurfsvollen Ton von jemandem, der sicher ist, eine negative Antwort zu bekommen.
Perlmann war darauf gefaßt, daß er wie gewöhnlich gegen die Angst vor Millar würde ankämpfen müssen. Doch auf einmal war da nun doch etwas von der Distanz zu den Dingen, auf die er vorhin vergeblich gewartet hatte. Es gelang ihm, für drei, vier Sekunden überhaupt nicht zu reagieren und an Millar vorbei zur Tür hinauszublicken. Er genoß das Ausbleiben jeglicher Angst und jeglicher Versuchung zur Beflissenheit. Dann blickte er in die blauen Augen, in denen bereits ein Anflug von Irritation lag, wartete noch einmal zwei, drei Sekunden und sagte dann mit kühler Gleichgültigkeit:
«Nein, daran habe ich nicht gedacht. »
«Das dachte ich mir», sagte Millar mit einer Stimme, in der Perlmann eine Spur von Verblüffung und sogar Unsicherheit wahrzunehmen glaubte. So war ihm Perlmann in den gesamten vier Wochen noch nie begegnet.
«Ich habe deshalb Signora Morelli mein eigenes Exemplar des Texts gegeben, damit sie das erledigt. Es ist netter, wenn Leskov den Text gleich bei der Ankunft überreicht bekommt. Eine Frage des Stils. »
«Okay», sagte Perlmann, ließ ihn einfach stehen und ging zur Theke, wo er Signora Morelli den Zimmerschlüssel übergab. Daß diese Geste langsamer und mit mehr Bewußtsein geschah als sonst, fiel nur ihm selbst auf, denn bevor sie vollendet war, klingelte das Telefon.
Auf dem Absatz der Freitreppe machte er halt und setzte die Sonnenbrille auf. Keine Angst mehr vor Millar und eine Unbeflissenheit, die er sich nicht mühsam abringen mußte – das also war es, was er durch den Entschluß zu sterben gewonnen hatte. Er zündete eine Zigarette an und ging langsam hinüber zum Lancia. Die soeben gemachte Erfahrung wollte er auskosten. Er stellte den Handkoffer auf den Rücksitz und saß dann eine Weile still hinter dem Steuer.
Es war ein Augenblick der Gegenwart – oder hätte einer sein können, wenn er zu einem Leben mit offener Zukunft gehört hätte, einem Leben mit Erwartungen, Hoffnungen und Plänen. Hier bei dieser Tankstelle, die Hand am Zündschlüssel des Wagens, mit dem er es nachher tun würde, verstand Perlmann zum erstenmal, wie die Fähigkeit zur inneren Abgrenzung gegen die anderen Menschen mit dem Gegenwartserleben zusammenhing. Mit einer übergroßen Klarheit, die fast schwindlig machte, begriff er, daß die immer aufs neue mißlingende Abgrenzung und die ständig zurückweichende Gegenwart zwei Facetten ein und derselben Schwierigkeit waren, die sich wie ein roter Faden durch sein Leben zog und ihn zu einem Menschen hatte werden lassen, der selbst in den ruhigsten Phasen seines Lebens – und auch dann, wenn er es gar nicht recht bemerkte – stets außer Atem war. Und mit der gleichen Klarheit sah er, daß der Gedanke an den nahen Tod, der ihm die Abgrenzung jetzt möglich machte und damit die Voraussetzung für eine erlebte Gegenwart geschaffen hätte, diese Gegenwart gleichzeitig auch wieder zunichte machte, indem er ihm die Zukunft raubte und das Bewußtsein einer Schuld entstehen ließ, in dem alles Erleben erstarrte.
Als er auf die Uferstraße hinausfuhr, kamen die anderen alle
Weitere Kostenlose Bücher