Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
in der Mitte. Er schluckte zweimal, warf ihr einen kurzen Blick zu und schluckte nochmals.
«Es geht schon», sagte er leiser als beabsichtigt, und fügte lauter hinzu:«Ich habe miserabel geschlafen. »
«See you later», sagte sie, als sie sich in der Halle trennten. Er sah ihr nach, wie sie die schwere Tür öffnete, sich dagegen lehnte und mit ihrem großen Feuerzeug eine Zigarette anzündete, bevor sie auf den Platz hinaustrat. Er war erleichtert, daß er der riesengroßen Versuchung widerstanden hatte, sich ihr anzuvertrauen. Gleichzeitig jedoch hatte er das Gefühl, soeben die allerletzte Chance vertan zu haben.
Eilig ging er auf die Toilette, die eigentlich nur für die Angestellten gedacht war. Es war kein Durchfall, sondern wieder nur diese täuschende Empfindung im Unterleib. Trotzdem blieb er eine Weile sitzen, den Kopf in den Händen, und dachte an nichts. Erst als ihm schließlich kalt wurde, erhob er sich. Es war so mühsam, als sei er aus Blei.
Vor der Tür wartete Evelyn Mistral.
«Du fährst doch jetzt zum Flughafen, nicht wahr?»fragte sie auf spanisch. In ihrem Gesicht lag noch ein Rest von Scheu, vor allem aber die Hoffnung, die Entfremdung der letzten Tage sei vorbei.
«Si», sagte Perlmann und spürte, wie es ihm in Erwartung des Kommenden die Kehle zuschnürte.
«Hättest du etwas dagegen, wenn ich mitführe? Es ist so schönes Wetter! Und dann dieses tolle Auto! Ich dachte, wir könnten vielleicht die Küstenstraße nehmen. Wieviel Zeit ist noch bis zu Leskovs Ankunft?»
Perlmann stand einen Moment lang reglos da und sah ins Leere, gerade so, als habe er noch nie davon gehört, daß zu Fragen Antworten gehörten. Dann sah er mit der Umständlichkeit eines geistig Zurückgebliebenen auf die Uhr und sagte in monotonem, abwesendem Ton:«Noch gut zwei Stunden. »
Während sie darauf wartete, daß er fortfuhr, steckte Evelyn Mistral die Hände in die Taschen der Jacke, kreuzte die Beine und schlüpfte mit dem einen Fuß halb aus dem Schuh. Nach einer Pause, die wie eine Ewigkeit war, hob sie den Blick vom Pflaster.
«Forget it», sagte sie, warf ihm aus halbgeschlossenen Augen einen kurzen Blick zu und wandte sich zum Gehen.
«No, por favor, no», sagte Perlmann hastig, faßte sie am Arm und zog sie, indem er ein hupendes Auto zur Vollbremsung zwang, über die Straße.
Drüben angekommen löste sie sich sanft und sah ihn unsicher an. «¿Seguro?»
Perlmann nickte nur und ging voran in die Nebenstraße. Nicht einmal jetzt bin ich imstande, eine Grenzlinie um mich herum zu ziehen und nein zu sagen. Nicht einmal jetzt, wo es um alles geht.
Er hatte gerade aufgeschlossen, und Evelyn Mistral hatte bereits die Wagentür in der Hand, da schlug sie sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.
«Ach, verdammt», rief sie aus,«das geht ja gar nicht. Ich muß doch auf diesen blöden Anruf aus Genf warten!»Und dann erzählte sie Perlmann über das Autodach hinweg von ihrem Ärger mit der gescheiterten Finanzierung eines Projekts.
Als er dann im Auto saß und ihr im Rückspiegel nachblickte, sah er, wie sie sich, bevor sie um die Ecke bog, noch einmal umdrehte und dabei das Haar aus dem Gesicht strich. Kaum war sie verschwunden, fing er am ganzen Körper an zu zittern. Dieses Zittern war viel heftiger als vorhin bei der Unterschrift, und er war ganz sicher, daß es niemals wieder aufhören würde.
35
Kurz vor der Autobahnauffahrt bei Rapallo fand er einen Müllcontainer, wo er sich nicht beobachtet fühlte. Er hatte bis hierher fast dreiviertel Stunden gebraucht. Denn kaum hatte er die Nebenstraße beim Rathaus verlassen, war er in eine Reihe von Verkehrsstockungen geraten, hervorgerufen durch Lieferwagen, die, wie damals in Genua, ungeniert mitten auf der Straße hielten, um ihre Ware abzuladen. Seine ganze Verzweiflung hatte sich in eine grenzenlose, irrsinnige Wut auf die Fahrer dieser Lieferwagen verwandelt, die, wenn sie den leeren Wagen hinten zugemacht hatten, aufreizend langsam nach vorne gingen und dabei oft noch mit einem Bekannten ein paar Worte wechselten, bevor sie endlich losfuhren. Schwitzend hatte er das Fenster heruntergelassen, dann aber sofort wieder zugemacht, weil er das wütende Gehupe in der Schlange nicht aushielt. Die Krawatte hatte er zusammen mit der Medaille und der Urkunde nach hinten auf den Sitz geschleudert. Immer von neuem hatte es ihn gedrängt sich, auszumalen, was geschehen wäre, hätte Evelyn Mistral den Anruf vergessen. Doch eine lähmende Müdigkeit
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