Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
längst auf dem Monitor und auch schon auf der schwarzen Anzeigetafel. Perlmann lehnte sich gegen einen Pfeiler, zündete automatisch die letzte Zigarette aus dieser Packung an und warf die Schachtel in den Abfallbehälter neben sich. Er hätte mit den verrinnenden Minuten gern mehr angefangen, als den schwarzen Gummibelag des Fußbodens zu betrachten. Aber in seinem Kopf wollte sich nichts mehr bewegen, das Denken war wie eingetrocknet, und selbst die Fähigkeit zur Aufmerksamkeit schien er verloren zu haben. Nur sein Körper war da, plump und abstoßend. Die Kopfhaut juckte, er kratzte sich blutig und wischte danach automatisch die Schuppen vom Blazer. Die kaum getragenen Schuhe drückten, und als er sich bückte, um sie lockerer zu schnüren, begann die eiskalte Nase zu laufen.
Und dann plötzlich jagten sich die Gedanken. Die anderen hatten im Rathaus seine zitternde Hand gesehen, und sie würden daran denken, wenn sie von dem Unfall erfuhren. Er sah Ruge vor sich, wie er die geflickte Brille schräg stellte und am Unfallort nachdenklich den leeren Handkoffer betrachtete. Es würde bekannt werden, daß Leskov nicht angeschnallt war, und dann würden von Levetzov und Millar sich wortlos ansehen. Man würde es sonderbar finden, daß er praktisch kein Geld bei sich gehabt und die Kreditkarten im Koffer gelassen hatte. Und das Fünfmarkstück, um Gottes willen, es wird mich verraten, der Wagen ist noch kaum gefahren, und ich bin wahrscheinlich der einzige Deutsche, der ihn hatte. Perlmann verspürte den blinden Impuls, zum Auto hinauszurennen, aber da war bereits der nächste Gedanke: Die Schaufel, warum war im Lehmhaufen eine Schaufel, was mache ich, wenn nachher genau an dieser Stelle jemand arbeitet. Der Gedanke wurde von einem weiteren weggewischt: Kirsten. Sie wird sich fragen, wo die Russischbücher geblieben sind, vor allem das große Lexikon mit dem unangenehmen Papier, das Martin nicht kennt. Sie wird die Sache nicht auf sich beruhen lassen, sie ist eigensinnig und kann stur sein, sie wird die anderen fragen, jeden einzelnen, und dieses Rätsel wird sich in den Köpfen mit den anderen Merkwürdigkeiten, wie etwa der ausgefallenen Route, verbinden. Und dann fiel in die Anspannung dieser Gedankenflucht hinein noch ein letzter Gedanke, und der ließ Perlmann erstarren: Die Alte. Sollte sie in der Lokalpresse ein Foto der Toten zu sehen bekommen, wird sie reden. Es war idiotisch, einfach hirnverbrannt, sie anzusprechen und die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, dazu noch mit dieser schwachsinnigen Geschichte von einem Film. Hoffentlich bin ich nachher nicht mehr zu erkennen.
Perlmann hielt es nicht mehr aus herumzustehen und ging in Richtung Abflughalle. Bevor er die Rolltreppe betrat, warf er einen Blick auf die Anzeigetafel. In ritardo stand jetzt hinter dem Flug aus Frankfurt. Ab halb fünf wird’s weniger, c’e meno, hörte er die Alte sagen und sah ihren Zahnstummel vor sich. Er rannte die Treppe hinauf zu einem Schalter der Alitalia.
«Nur etwa eine Viertelstunde», sagte die Hostess auf seine Frage und sah ihn wegen seiner Aufregung verwundert an.
Das ist aufzuholen. Jetzt also noch dreiviertel Stunden. Er ging hinüber zu den Sitzen, wo er vor bald vierzehn Tagen frühmorgens gewartet hatte und sich ohne Buch schutzlos vorgekommen war. Aber die Erinnerung war unerträglich, und schließlich trat er an die Bar und bestellte einen Espresso.
Neben ihm entfaltete jemand eine Zeitung. Perlmann las die Schlagzeilen und betrachtete die Fotos, auf der Titelseite eines von der Smogglocke über Mailand, und auf der letzten Seite den Schnappschuß einer Mißwahl. Hinter ihm brach eine Frau mit einer sehr hellen Stimme in lautes Lachen aus und rief dann:«Ancora!»Er drehte sich um und sah, wie ihr Begleiter, ein Mann mit einem langen, weißen Schal und dem Aussehen eines Filmstars, ein Stück in den Raum hinausging, sich dann umdrehte und einen Moment stillstand wie vor dem Anlauf zum Weitsprung. Dann machte er mit blasierter Miene einige gespielt schlürfende Schritte, und auf einmal, in einem unglaublich schnellen, blitzartigen Wechsel der Bewegungen, knickte er die Füße nach außen und ging mit hektischen Schritten auf der Innenseite der Schuhe weiter, wobei er, die Zunge in der Backe, einen verblödeten Gesichtsausdruck aufsetzte. Der Anblick war so irrsinnig komisch, daß alle Leute an der Bar einschließlich des Kellners vor Lachen brüllten.
Und da geschah etwas, was Perlmann nicht mehr für
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