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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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möglich gehalten hätte: Die Komik überwältigte auch ihn, es brach etwas in ihm auf, und er lachte ein befreites, lautes Lachen – kein forciertes, hysterisches Lachen wie gestern abend beim Essen, und auch kein gespieltes Lachen wie vorhin im Rathaus, sondern ein Lachen, das täuschend nahe an die Gegenwart heranführte, es schien ihm, als könne er sie mit Händen greifen. Dieses Lachen wirkte wie eine rapide Erosion des verkrampften, verhärteten Gefüges von Gefühlen, auf dem der Entschluß zu töten und zu sterben aufgebaut gewesen war, die gesamte innere Struktur stürzte ein, und in diesem Augenblick sah der ganze mörderische Plan wie etwas sehr Fremdes und Fernes aus, abstrus und geradezu lächerlich.
    Er hoffte auf eine nochmalige Vorführung, doch inzwischen lag der Mann, noch immer mit dem Ausdruck eines Idioten, in den Armen der Frau und lehnte sich mit gespielter Schlaffheit so schwer gegen sie, daß sie einen Moment das Gleichgewicht verlor und mit der Schulter gegen Perlmann stieß. Er fing ihr entschuldigendes Lächeln auf, roch ihr Parfum und sah an ihrem glänzenden schwarzen Haar vorbei durch die großen Glasfenster der Halle hinaus in die Ferne, wo in einem von Dächern und Stangen gebildeten Rechteck eine Maschine mit gleißenden Tragflächen aufstieg. Er hatte nicht gewußt, daß es das gab: einen Lebenswillen, der einen heiß und betäubend durchströmen konnte wie eine Droge. Er bestellte einen zweiten Espresso, tat drei Löffel Zucker hinein und ließ die kleinen Schlucke auf der Zunge zergehen. Dann aβ er ein Panettone, danach noch eines und mit einem weiteren Espresso zusammen ein drittes. Er zog den Blazer aus, hängte ihn an einem Finger über die Schulter und stützte den Arm mit der Zigarette auf die Theke. Ihm gefiel das harte, helle e, das die Frau neben ihm gebrauchte, und während er immer von neuem auf diesen Klang wartete, fing er an zu überlegen, wohin er fliegen könnte. Wann geht Ihr nächster Flug? Wohin? Irgendwohin.
    Als die Frau mit dem Komiker weggegangen war und der Kellner hinter der Theke den Gehilfen anschnauzte, zerbrach alles, es verschwand wie eine Luftspiegelung, nie gewesen, und übrig blieb nur ein Zittern vom vielen Kaffee. Perlmann sah auf die Uhr: zehn nach drei. Langsam ging er zurück in die Ankunftshalle. Dies waren die letzten Minuten seines Lebens, die er mit sich allein sein konnte. Trotz der schwülen Luft im Gebäude fror er. Und wenn es nun gar nicht dieser Montag war? Im Telegramm hatte kein Datum gestanden. Aber er hatte Leskov die Termine der Gruppe seinerzeit ja mitgeteilt. Und heute war der letzte Montag, der in Frage kam.
    Der Monitor meldete Leskovs Flug als schon gelandet. Perlmann bekam einen Magenkrampf. Er stellte sich ganz hinten zu der Gruppe der Wartenden. Er wußte nicht wohin mit den Händen. Schließlich preßte er sie auf den schmerzenden Magen und massierte. Dabei ging er in Gedanken noch einmal die Route durch. Erst die zweite Eisenwarenhandlung. Nicht den Straßenbahnschienen folgen. Bei der Bäckerei sofort rechts. Vor der Unterführung ganz links einordnen. Am Platz mit der Säule war es eher die dritte als die zweite Abzweigung. Seine Hände waren trotz des Massierens eiskalt. Auch das durchgeschwitzte Hemd war am Rücken kalt und klebte. Wäre nur die Eremitage nicht gewesen. Er wünschte, Leskov hätte damals am Ufer der Neva nicht vorgeschlagen, sie sollten du zueinander sagen.
    Er griff nach den Streichhölzern in der Jackentasche und bekam den Parkschein zu fassen. Und da spürte er, daß dort nur noch ein paar Münzen waren und kein einziger Geldschein mehr. Er sah auf die Münzen: sechshundert Lire. Ich komme hier nicht raus, dachte er, ich kann die Parkgebühr nicht bezahlen. Dann sah er Leskov.

36
     
    Er trug denselben abgewetzten Lodenmantel wie beim letztenmal und wirkte noch breiter und unförmiger, als Perlmann ihn in Erinnerung hatte. In der einen Hand hatte er einen großen, vorsintflutlich aussehenden Koffer, der in seinem ausgeblichenen, fleckigen Braun den Eindruck machte, als sei er aus Karton. Die andere Hand hielt einen kleinen Handkoffer mit einem Außenfach. Leskov blieb stehen und sah sich mit seinen dicken Brillengläsern unsicher um, wegen des schweren Koffers ein bißchen nach vorne gebeugt. Perlmann hatte den Eindruck, vor Kälte zu schlottern, als er ihn so stehen sah. In den vergangenen Wochen war Leskov der unsichtbare Autor eines Texts gewesen, eine Stimme ohne körperliche Gegenwart,

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