Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
Vom Netzwerk:
die er mit dem Fortschreiten der Übersetzung immer mehr gemocht und bewundert hatte, und mit deren eindringlichem Tonfall er sich zeitweilig hatte identifizieren können. Jetzt stand er da, ein verloren wirkender Mann mit einem unordentlichen, verschwitzten Haarkranz und einem angegrauten Stoppelbart, der in angespannter Erwartung die Zungenspitze zwischen die Zähne geklemmt hatte. Perlmann fand ihn abstoßend. Auch hatte der Anblick etwas lächerlich Pathetisches. Doch diese Empfindungen milderten nicht den Schock, der ihn bei dem Gedanken überfiel, daß er diesen leibhaftig anwesenden Menschen dort vorne, der jetzt, statt den Koffer einfach abzusetzen, breitbeinig das Gewicht verlagerte, töten sollte.
    Perlmann bahnte sich einen Weg durch die Gruppe der Wartenden und ging dann steif auf ihn zu, die Hände in den Hosentaschen. Als Leskov ihn sah, strahlte er über das ganze Gesicht, setzte das Gepäck ab und breitete die Arme aus. Früher als nötig nahm Perlmann die rechte Hand aus der Tasche und machte die letzten Schritte mit ausgestrecktem Arm. Sein Gesicht war gefühllos und gehorchte ihm nicht. Er wußte sich nicht anders zu helfen als durch einen Blick, der starr auf den offenen Kragen von Leskovs rot-blau kariertem Hemd gerichtet war. Leskov übersah die ausgestreckte Hand, faßte ihn mit beiden Händen an den Schultern und schloß ihn wortlos in die Arme, wobei er Perlmanns förmliches«Guten Tag»unter sich begrub.
    Er roch nach süßlichem Tabak und Schweiß. Perlmann erstarrte, als Leskov ihn fest an sich drückte, und wünschte, ganz schnell wegschrumpfen zu können. Aber Leskov durfte nicht merken, daß er sich vor ihm ekelte, und so legte er mit Verzögerung die Arme um ihn und drückte kurz und leicht. Als er versuchte, die Umarmung zu lösen, hielt ihn Leskov weiterhin fest, und es war Perlmann danach, ihn mit aller Gewalt von sich wegzustoßen. Schließlich ließ auch Leskov los, und nun faßte ihn Perlmann aus schlechtem Gewissen an den Oberarmen und bewegte die Hände hinauf und hinunter, als wolle er ihn streicheln. Es war eine mechanische Geste, hohl und leer, und doch war sie ein Hohn, Perlmann spürte es und wäre am liebsten in den Erdboden versunken.
    «Philipp», sagte Leskov und machte eine dramatische Pause,«es ist wunderbar, dich wiederzusehen! Phantastisch! Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich freue! »
    «Ja»war das einzige, was Perlmann herausbrachte. Er vermochte Leskovs Blick nur ein, zwei Sekunden standzuhalten, dann bückte er sich geschäftig nach dem Koffer, und in seiner namenlosen Beklemmung kam ihm dies alles ganz unwirklich vor, so als würde es gar nicht wirklich geschehen, als sei es nur eine Möglichkeit, eine Szene in seiner Phantasie.
    «Warte, bitte», sagte Leskov, als Perlmann mit dem Koffer vorauseilte, als müßten sie einen wartenden Zug erreichen,«ich möchte etwas Geld wechseln. »Er holte aus der Gesäßtasche umständlich den Geldbeutel hervor und zog einen Fünfzig-Dollar-Schein heraus.«Ich habe nicht viel», sagte er mit einem verlegenen Lächeln,«aber das hier habe ich noch schnell auftreiben können und möchte es gleich eintauschen. »
    In seiner detailversessenen Phantasie hatte sich Perlmann alles haarklein ausgemalt, er hatte jeden einzelnen Schritt zu berechnen, jeden Faktor zu beherrschen gesucht, um möglichst wenig dem Zufall zu überlassen. Nur an das eine hatte er nicht gedacht: daß Leskov ein Mensch aus Fleisch und Blut war, der seinen eigenen Willen und seinen eigenen Stolz hatte. In der Phantasie war er eine Figur mit einem bestimmten Aussehen gewesen, auch mit einer Vergangenheit, und natürlich mit einer wissenschaftlichen Stimme, ferner eine Figur, die sich, ganz allgemein und abstrakt gesprochen, wie ein Mensch verhielt, so daß sie sich in groben Zügen berechnen ließ – aber eben nur eine Figur, die von der Einbildungskraft hin und her geschoben werden konnte, ein Wesen ohne die besonderen, überraschenden und hartnäckigen Wünsche und Vorlieben, die den Widerstand, die Selbständigkeit und Eigengesetzlichkeit eines Menschen ausmachten.
    Ganz langsam setzte Perlmann den Koffer ab, atmete aus und blieb länger als nötig gebückt stehen, die Augen geschlossen. Es war gut, daß er zur Tür stand und Leskov sein Gesicht nicht sehen konnte. Als er sich aufrichtete und umdrehte, hatte er die Fassung wiedergewonnen. Drüben am Bankschalter stellte sich gerade der vierte Reisende in die Schlange. Aber es war nicht nur der

Weitere Kostenlose Bücher