Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
würde. Er hatte sich das gestern immer wieder gesagt und hatte versucht, sich zu wappnen. Und doch, dachte er jetzt beim Einsteigen, hatte er keine Ahnung gehabt, wie groß die Pein wirklich sein würde. Zuerst die makabre Ironie, daß er auf Leskovs Geld angewiesen war, um die tödliche, die mörderische Fahrt antreten zu können. Dann Leskovs genaue Wahrnehmung des südlichen Lichts und seine Freude. Und jetzt diese Äußerung über die Stadt, die sich mit dem deckte, was er selbst gedacht hatte, als er am Freitag Genua vom Schiff aus gesehen hatte. Der Gleichklang ihrer Wahrnehmungen hob die Distanz auf, die Leskovs abstoßendes Äußeres hatte schaffen helfen, und als er den Schlüssel ins Zündschloß steckte, mußte Perlmann es sich innerlich vorsagen, um weitermachen zu können: Er ist derjenige, der mich entlarven würde. Durch ihn würde ich zu einem geächteten, ausgestoßenen Mann. Es gibt keine andere Lösung, ich habe es lange genug überlegt.
Mit dem Einschalten der Zündung leuchtete die Uhr auf: zwanzig vor vier. Leskov sank schnaufend auf den Sitz und legte die Hände in den Schoß. Er machte keinerlei Anstalten, sich anzuschnallen, sondern saß auf dem eleganten, hellgrauen Lederpolster wie in einem Clubsessel. Perlmann spürte, wie er ihn ansah, und konnte nicht anders, als ebenfalls den Kopf zu drehen. Es wäre der Moment gewesen zu sagen, wie schön es sei, daß er nun doch habe kommen können, um dann hinzuzufügen:«Erzähl! »Statt dessen wandte Perlmann den Blick wieder ab. Für den Bruchteil einer Sekunde verspürte er den Impuls, nach dem Sicherheitsgurt zu greifen, fing aber die Hand, die sich nach links statt nach vorn zum Zündschloß bewegt hatte, noch rechtzeitig ab. Nur das jetzt nicht; sonst versucht er es auch. Erleichtert darüber, daß er es noch rechtzeitig gemerkt hatte, faßte er an den Zündschlüssel und drehte. Sofort ertönte ein hoher, durchdringender Ton, der auf Perlmann wie ein elektrischer Schlag wirkte und ihn für einen Moment völlig aus der Fassung brachte. Das Signal für den offenen Gurt. Natürlich, in einem solchen Wagen gibt es das. Oh, mein Gott, ich werde es bei diesem fürchterlichen Ton tun müssen. Sein Ärmel verfing sich am Hebel für das Licht, bevor er schließlich die Zündung wieder ausschaltete. Mit möglichst sparsamen Bewegungen zog er den Gurt über den Körper und ließ ihn ganz vorsichtig einschnappen. In seinem Tun war eine Sanftheit wie bei jemandem, der ein Kind nicht aufwecken möchte. Einen bangen Moment lang wartete er.
«Unglaublich, dieses Licht», sagte Leskov.
Perlmann fuhr los, als säßen sie in einem Gehäuse aus Porzellan. Erst nach einer Weile gab er richtig Gas.
Ja, sagte Leskov, es sei alles ganz überraschend gekommen. Die Mutter sei vor zehn Tagen gestorben, nach der Krankheit nicht völlig unerwartet, aber dann doch viel schneller als angenommen. Larissa, seine Schwester, die von Moskau gekommen sei, habe ihn, als er von Perlmanns Einladung erzählte, gedrängt, sich noch einmal um die Ausreisegenehmigung zu bemühen. Dieses Drängen, fügte er nach einer Pause hinzu, habe wahrscheinlich damit zu tun, daß Larissa ein schlechtes Gewissen habe: Seit sie nach der Heirat nach Moskau gezogen sei, habe er ganz allein für die Mutter sorgen müssen.
In Perlmanns Vorstellung war der Mann neben ihm jemand gewesen, der sich um seine Mutter kümmerte, im übrigen aber ganz allein stand und sonst niemanden hatte, der ihn vermissen würde. Alles, was Leskov jetzt über seine Schwester erzählte, umständlich und in liebevollem Ton, schnürte Perlmann die Kehle zu. Mit jedem weiteren Charakterzug, der an Larissa sichtbar wurde, zog sich der unsichtbare Strick noch enger zusammen. Langsam und unauffällig holte er Atem und versuchte sich zu befreien, indem er auf lauter Dinge an der Straße achtete, die für das Fahren ohne jede Bedeutung waren.
Der Verkehr wurde dichter, und zwei gefährlich überholende Motorräder, denen er ausweichen mußte, halfen ihm, die Worte neben sich zu überhören. Leskov hatte überhaupt kein Gespür dafür, daß jemand hinter dem Steuer auf den Verkehr aufpassen mußte, und redete wie ein Wasserfall. Und dann kamen bereits die rostigen Rolläden der ersten Eisenwarenhandlung in Sicht. Perlmann spürte, wie sich Rücken und Hals noch mehr verkrampften. Auf keinen Fall schon bei der ersten. Mit kalten Händen faßte er fester ans Steuer und blickte angestrengt nach vorn, um die zweite nicht zu
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