Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
planen. Mit der Dämmerung, den gedämpften Farben und der Magie des Laternenscheins füllte sich sein innerer Raum wieder einmal mit all den Bildern, die er in der einen Minute fürchtete, um in der nächsten nur noch Überdruß zu empfinden und die Sehnsucht nach einer Kraft, die alles auszulöschen vermöchte.
Die Gestalt, die rückwärts aus dem Taxi kroch und dabei mit zwei riesigen Fototaschen kämpfte, die sich am Sitz und nachher in der Tür verfingen, konnte nur Laura Sand sein. Sie bat den Fahrer, der ihr den Koffer auf die Treppe stellte, die Zigarette zu halten, während sie in den Taschen des langen, schwarzen Mantels nach Geld suchte. Dann hievte sie den Koffer Stufe für Stufe die Freitreppe hinauf und fing mit dem anderen Arm die Fototaschen ab, wenn sie gegen das Geländer zu schlagen drohten.
Perlmann rannte los und merkte zu spät, daß er den Schlüssel im Zimmer vergessen hatte. Beim ersten Stich im Knöchel knickte er auf der Treppe ein und kam humpelnd und mit schmerzverzerrtem Gesicht in der Halle an, wo Laura Sand im Aschenbecher auf der Empfangstheke gerade die Zigarette ausdrückte.
Er hatte vergessen gehabt, wie sehr sie mit ihrem weißen Gesicht, den spöttisch vorgeschobenen Lippen und dem zornigen Schatten in den fast schwarzen Augen einen ganzen Raum auszufüllen vermochte. Erinnert hatte er sich vor allem an den dichten Schopf von tiefschwarzem, mattem Haar, das auf beiden Seiten eines verwischten Scheitels ungleichmäßig auf ihre Schultern fiel. Auch jetzt, wo sie ihm lächelnd die feingliedrige Hand gab, war in ihrem Blick eine skeptische Schärfe, die noch dadurch unterstrichen wurde, daß sie den Kopf stets etwas zur Seite geneigt hatte. Einen Augenblick lang verglich er ihr Gesicht mit demjenigen von Signora Morelli, die gerade den australischen Paß entgegennahm: Das italienische Gesicht wirkte nur noch wie ein angenehmer, aber blasser Hintergrund.
Laura Sand legte jetzt ihren schwarzen Lederkoffer, der mit ausgeblichenen, abgeschabten und eingerissenen Aufklebern fremder Städte und seltener Tiere übersät war, flach auf den Boden, zog den Reißverschluß auf und zerrte aus einem Wust von Wäsche, Büchern und Filmrollen eine olivgrüne Reiseschreibmaschine hervor. Damit schreibe sie seit bald zwanzig Jahren, sagte sie, und zwar auch in der Steppe und im Urwald. Zweimal sei die Maschine schon vollständig zerlegt und wieder zusammengesetzt worden. Ausgerechnet gestern nun habe ihre Tochter sie bei einem ihrer Anfälle von Aerobic vom Tisch gefegt, und nun ließe sich der Wagen nicht mehr richtig bewegen. Sie müsse dringend repariert werden.
«Ohne das verdammte Ding kann ich nicht denken», sagte sie in breiter australischer Aussprache und mit einer sonderbaren Wut, die fast komisch anmutete, weil sie gegen niemanden gerichtet war und ihr zweite Natur zu sein schien.
«Kein Problem», sagte Giovanni, als Signora Morelli übersetzt hatte. Er war gerade gekommen, um beim Empfang die Nachtschicht anzutreten, und hatte noch mehr Pomade im Haar als gestern abend, wo er Perlmann mit seiner Begriffsstutzigkeit und seinen läppischen Kommentaren fürchterlich auf die Nerven gegangen war. Er kenne da jemanden, der das im Handumdrehen richten könne, sagte er. Er konnte seinen Blick nicht von Laura Sands Gesicht lösen, und statt nach dem Pagen zu klingeln, nahm er, noch im Mantel, ihren Koffer selbst in die Hand und ging voraus zum Lift.
Als das Zimmermädchen, das ihm aufgeschlossen hatte, gegangen war, griff Perlmann wieder zu Leskovs Text. Jetzt, wo es bis zur Ankunft von Brian Millar höchstens noch eine Stunde dauern würde, war es besonders wichtig, einen Schutzwall aus verstandenen russischen Sätzen um sich herum aufzubauen. Je mehr Sätze er noch aufzuschichten vermochte, desto weniger konnte ihm der Mann mit dem rötlichen Schimmer im dunklen Haar anhaben.
Aber es gelang Perlmann nicht, auch nur einen einzigen weiteren Satz zu übersetzen. Wie gestern im Flugzeug lähmte ihn eine Art sehender Blindheit, und als es ihm schließlich wieder gelang, die Wörter richtig zu lesen, spielte ihm das Gedächtnis einen Streich nach dem anderen. Er spürte die Angst in sich aufsteigen wie ein Gift, das, in der Tiefe freigesetzt, unaufhaltsam an die Wasseroberfläche drängte. Während er im Dunkeln am Fenster stand und rauchte, rief er Evelyn Mistrals Lachen zu Hilfe, und danach Laura Sands zornigen Blick. Aber er war unsicher, ob die beiden Gesichter gegen Millar etwas
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