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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Telefonanschluß konnte schnell repariert werden, viel zu schnell. Oder etwas am Fernsehanschluß verbiegen und sagen, er habe aus Versehen die Kommode dagegen gestoßen. Doch auch eine Fernsehdose war leicht auszuwechseln. Im Badezimmer ließ sich nichts Wichtiges kaputtmachen, ohne daß es nach Mutwilligkeit aussah. Etwas auf den Teppich ausgießen, beispielsweise eine ganze Kanne Kaffee. Doch wegen eines Teppichflecks bat man nicht um ein anderes Zimmer, schon gar nicht, wenn man ihn selbst verursacht hatte.
    Achim Ruge schneuzte sich und trompetete dabei noch lauter als am Nachmittag. Kurz darauf erklang aus Millars Zimmer Klaviermusik. Bach. Zitternd vor Ärger suchte Perlmann im Radio am Nachttisch nach dem Sender. Nichts; Millar mußte ein Tonbandgerät oder Kassettenradio mitgebracht haben.
    Widerstrebend hörte er zu. Diese Komposition kannte er nicht. Für Bach hatte er nie ein Gedächtnis gehabt. Er hätte sich nicht getraut, das im Konservatorium zu sagen, aber das meiste von Bachs Klavierwerk fand er monoton und langweilig. Insgeheim, hatte er oft gedacht, war es Bela Szabo auch so gegangen. Sonst hätte er, wie die anderen Lehrer, darauf bestanden, daß Perlmann wenigstens ein Minimum Bach spielte.
    Perlmann griff zur russischen Grammatik. An Leskovs Text, das spürte er, würde er jetzt wieder scheitern. Aber wenigstens die russische Liste für müssen konnte er sich endgültig einprägen. Dann hatte er etwas, einen winzigen Fortschritt, an den er sich klammern konnte, wenn er nachher hinunter zum Abendessen mußte. Er ging, das offene Buch in der Hand, auf und ab und sagte die Wörter lauter als gewohnt vor sich hin, um sich gegen Millars Bach und Ruges erneutes Schneuzen zu behaupten.
    Kurz vor acht stand er in der grauen Flanellhose und dem dunkelblauen Blazer am Fenster und sah zu, wie Leute von auswärts die Freitreppe heraufkamen, um in dem bekannten Restaurant des MIRAMARE zu essen. Eine Fensterscheibe zerschlagen. Das ließe sich mit einer Ungeschicklichkeit erklären und wäre ein Grund, das Zimmer zu wechseln, jetzt, wo die Nächte schon ziemlich kühl wurden. Aber auch eine Fensterscheibe war rasch ersetzt. Weglaufen, ganz einfach weglaufen, über die Treppe hinunter auf die Uferpromenade, dort vorne um den Felsvorsprung herum, auβer Sichtweite, und dann immer weiter gehen, immer weiter. Er ballte die Fäuste in den Taschen, bis die Nägel in die Handfläche schnitten. Auf dem Weg zur Tür blieb er stehen und wiederholte zweimal die Liste für müssen. Sie saß. Jetzt kommt es darauf an, lakonisch zu sein, dachte er beim Zuziehen der Tür, nicht unfreundlich, aber lakonisch.
    Auf der Treppe stellte er erschrocken fest, daß es schon nach halb neun war und er zum ersten gemeinsamen Abendessen zu spät kam. Immer noch ein bißchen humpelnd betrat er den eleganten Speisesaal mit den glitzernden Kronleuchtern. Jetzt, wo er die Kollegen an einem großen, runden Tisch sitzen sah, wurde ihm klar, daß er keine Ahnung hatte, was er als offizielle Begrüßungsworte sagen sollte.

3
     
    Millar sah auf die Uhr und erhob sich, freilich ohne ihm entgegenzugehen. Er trug zu der grauen Hose einen dunkelblauen Zweireiher und über dem fein gestreiften Hemd eine matrosenblaue Krawatte, auf die mit goldgelbem Faden ein stilisierter Anker gestickt war. Sein Aussehen und seine straffe Körperhaltung erinnerten an einen Marineoffizier, ein Eindruck, der dadurch verstärkt wurde, daß sein kantiges Gesicht mit dem energischen Kinn gebräunt war, als sei er wochenlang auf See gewesen. Wie er da mit seinen breiten Schultern am Tisch stand, während die Kollegen sitzengeblieben waren, wirkte er wie der Chef des Ganzen, der zur Begrüßung eines Nachzüglers aufgestanden war.
    «Good to see you, Phil», sagte er mit einem Lächeln, das seine großen, weißen Zähne sichtbar werden ließ. Sein Händedruck war so kurz und kräftig, daß in Perlmann die Empfindung vollständiger Passivität entstand.
    «Yes», murmelte er und ärgerte sich über seine alberne Reaktion. Wie damals in Boston waren es die stahlblauen Augen hinter der blitzenden Brille, die ihn innerlich zum Schüler schrumpfen ließen, zum kleinen Pimpf, der sich beklommen bewußt war, daß er sich vor dem Lehrer erst noch bewähren mußte. Da hatte Millar einen Nachtflug hinter sich und eine Arbeitssitzung mit dem italienischen Kollegen, und trotzdem blickten diese Augen so ausgeschlafen, wach und ruhig, als sei er gerade eben aufgestanden. Fit, dachte

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