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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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jenen Vortrag einen Bericht genannt. Es entging ihm nichts, diesem scharfsinnigen Mann mit dem phänomenalen Gedächtnis, und er wog seine Worte sehr sorgfältig. Er beherrschte das Spiel wie nur wenige. Es war unmöglich gewesen, ihn nicht einzuladen.
    Perlmann trat ans Fenster und blickte auf die Bucht. Die sinkende Sonne schien durch eine feine graue Wolkenbank und gab dem Wasser die Farbe von Platin. Drüben bei Sestri Levante gingen bereits vereinzelte Lichter an. Es waren erst wenige Stunden seit der ersten Zigarette vergangen, und schon rauchte er wieder so, als habe er nie damit aufgehört. Es tat weh, als er sich dessen bewußt wurde. Es kam ihm vor, als striche er damit die letzten fünf Jahre durch, und er hatte das Gefühl, einen Verrat an Agnes zu begehen.
    Er dachte an die anderen vier Kollegen, die er noch in Empfang nehmen mußte, und nahm sich vor, lakonisch zu sein. Nicht unfreundlich, nicht einmal kühl, aber lakonisch, also von einer gewissen Knappheit in den Worten. Gewöhnlich sagte er zuviel, obwohl ihm überhaupt nicht nach Reden zumute war, er erklärte zuviel, und es waren Erklärungen, die nicht selten wie Entschuldigungen klangen, wie Rechtfertigungen, die niemand verlangt hatte. Auch drückte er oft viel zuviel Verständnis für die anderen aus, Verständnis, das gar nicht erwartet wurde und vielleicht gar nicht erwünscht war. Er kam sich dann aufdringlich vor, was ihm ein Greuel war. Es war wie eine Sucht.
    Er griff zu Leskovs Text. Die ersten Sätze des zweiten Absatzes leisteten Widerstand, und es kam mehrmals vor, daß er zwischen den verschiedenen Bedeutungen, die das Wörterbuch für ein Wort angab, schwankte; mehrere schienen möglich, und doch schien keine wirklich zu passen. Danach aber wurden die Dinge durchsichtiger, und den einen oder anderen Satz verstand er ohne das geringste innere Stocken. Die Aufregung, die er vorhin, beim Lesen des ersten Absatzes, gespürt hatte, kehrte wieder. Dies hier waren nicht, wie bisher immer, Sätze in einem Übungsbuch, die nicht deshalb dastanden, weil jemand etwas Bestimmtes auf gerade diese Art sagen wollte, sondern weil dem Leser eine neue Variante der Grammatik oder des Ausdrucks vorgeführt werden sollte. Hier war die Sprache nicht Thema, sondern Medium, und der Autor setzte einfach voraus, daß der Leser dieses Medium beherrschte. Man kam sich dadurch ganz anders behandelt vor, als Erwachsener sozusagen, als Russischsprechender eben. Es war wie der Eintritt in die wirkliche russische Welt, wie eine Belohnung für all die Mühen mit dem Grammatikbuch.
    Perlmann war euphorisch. Er ging ein paarmal auf und ab, lehnte sich dann im Sessel weit nach hinten und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Zum erstenmal seit seiner Ankunft fühlte er sich sicher, seiner selbst gewiß. Er konnte Russisch, ich bin einer, von dem man sagen kann: Er liest Russisch. Wenn ich das nur mit Agnes teilen könnte. Dann wäre es eine Gegenwart. Er wählte Kirstens Nummer in Konstanz, aber es nahm niemand ab. Wahrscheinlich saß sie in einer Vorlesung oder einem Seminar.
    Es war ja nicht das erste Mal, daß er bei einer Sprache diesen Punkt überschritt. Aber dieses Mal war es doch noch anders, die beglückende Erfahrung war, schien ihm, intensiver als sonst. Vielleicht lag es daran, daß es lange Zeit so schwierig gewesen war und er insgeheim damit gerechnet hatte, nie dahin zu gelangen. Oder es lag an den kyrillischen Buchstaben, die für ihn auch jetzt noch geheimnisvoll aussahen, obwohl sie ihm nun seit fast zwei Jahren geläufig waren. Er blickte auf das Typoskript und wiederholte ein Spiel, das er immer von neuem genoß: Er betrachtete die Schrift zunächst mit den Augen von einem, der sie nicht lesen konnte, für den sie nur Ornament war. Dann ließ er die Augen gewissermaßen umkippen, in den Blick desjenigen hinein, der sich beim Aussehen der Buchstaben nicht aufhält, sondern, unmerklich geleitet von der vollkommenen Vertrautheit mit ihnen, direkt zur Bedeutung des Geschriebenen vordringt. Es ist kaum zu glauben, sagte er sich dann, aber ich kann es wirklich.
    Er las jetzt weiter, atemlos und stets mit der Befürchtung, die beiden ersten Absätze könnten eine Ausnahme gewesen sein und er würde nun gleich Schiffbruch erleiden und zu Texten zurückkehren müssen, die ihn wieder wie einen Schüler behandelten. Aber obwohl der kleine Langenscheidt hin und wieder versagte, ging es, und er war so gefangengenommen, daß er die Geräusche im Nebenzimmer nur

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