Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
nützen würden, und die Angst ging nicht weg.
Dabei gab es eigentlich nicht den geringsten Grund zur Angst. Gut, sie hatten sich von Anfang an nicht gemocht. Aber die Episode damals in Boston war doch nun wirklich harmlos gewesen; geradezu kindisch, und nichts, was eine Feindschaft begründen konnte.
Millar war mit seiner Freundin Sheila angereist, einer Schönheit mit langem, blondem Haar und sehr kurzem Rock. Er war überaus stolz auf sie und behandelte sie wie einen eifersüchtig gehüteten Besitz. Die Kollegen scharwenzelten um sie herum und machten ihr auf die albernste Weise den Hof. Perlmann tat gar nichts. Er zog sich in Konferenzpausen und manchmal auch während der Vorträge in eine stille Ecke des Gebäudes zurück und las in einem Taschenbuch mit Erzählungen. Sheila schlenderte öfter gelangweilt durch die Korridore und rauchte. Wenn sie in seine Nähe kam, warf sie ihm einen neugierigen Blick zu und ging weiter. Am dritten Tag der Konferenz setzte sie sich zu ihm und erkundigte sich, was er denn da immer lese. Ob sie nicht auch viel lieber ganz woanders wäre, fragte er sie nach einer Weile. Die Frage verblüffte sie, sie begannen zu lachen, und plötzlich entstand eine Vertrautheit, deren Reiz darin lag, daß sie hauchdünn und ohne jede Geschichte war. Sie gingen zusammen in die Cafeteria und scherzten immer weiter, denn Sheila gefiel sein trockener, melancholischer Humor. Als sie etwas besonders komisch fand, was er sagte, legte sie ihm den Arm um die Schulter, ihr Kopf war nahe an seinem, ihr Haar streifte seine Wange, er spürte ihren Atem und roch ihr Parfum. Er drehte den Kopf, und genau in diesem Moment betrat Millar, mit Kollegen aus der Sitzung kommend, die Cafeteria. Er sah sie in dieser Haltung der Intimität, Perlmann mit gerötetem Gesicht. Er ließ die Kollegen stehen, kam mit schnellen Schritten heran und faßte Sheila am Arm, als wolle er sie zur Rede stellen und wieder in Besitz nehmen. Sie wehrte sich, es gab fast eine Szene, alles unter den neugierigen Blicken der hereinströmenden Kollegen. Perlmann tat nichts, hielt nur weiter sein Tablett und spürte, daß es ihm nicht gelang, ein amüsiertes Lächeln zu unterdrücken, das Millar nicht entging.
Am Nachmittag war Perlmann mit seinem Vortrag an der Reihe. Millar saß mit Sheila in der ersten Reihe, Perlmann sah ihre glänzenden Strümpfe und die Bleistiftabsätze aus Metall. Er machte an der Tafel in einer Formel einen dummen Fehler. Es war ein ganz harmloser Fehler, und im Grunde genommen spielte er für den weiteren Gedankengang nicht die geringste Rolle. Millars Hand schoß hoch, noch bevor der Chairman mit den einleitenden Worten zur Diskussion fertig war. Mit einem Understatement, das vor Sarkasmus troff, wies er auf den Fehler hin. Perlmann geriet in Panik, verschlimmbesserte und wischte den korrekten Teil der Formel aus. Millar schlug die Beine übereinander, kreuzte die Arme vor der Brust und neigte den Kopf zur Seite.«Nein, das wiederum hätten Sie nun stehenlassen sollen», sagte er mit genüßlicher Langsamkeit und einem maliziösen Lächeln. Schließlich griff der grauhaarige Chairman, eine Autorität im Fach, mit ruhiger Stimme ein. Perlmann fand seine Sicherheit wieder, wischte ohne Hektik die ganze Formel aus und schrieb ohne Zögern die richtige hin. Dann ging er langsam zurück zum Pult, zog das Mikrofon mit schauspielerischer Sorgfalt zu sich heran und fragte, indem er zu Millar hinuntersah:«Zufrieden?»Es gelangen ihm ein Ton und ein Gesichtsausdruck, welche die Stimmung im Saal zu seinen Gunsten wendeten, denn es war leises Lachen zu hören. Sheila drehte den Kopf zu Millar und sah ihn mit einem neugierigen und schadenfrohen Gesicht an. Er gab ihr einen giftigen Blick zurück.
Als Perlmann am nächsten Morgen mit dem Koffer in der Hand die Hotelhalle betrat, waren Millar und Sheila gerade durch die Drehtür hinausgegangen. Sheila blickte noch einmal zurück und sah ihn. Millar hatte schon die Tür des Taxis in der Hand und drehte sich ungeduldig nach Sheila um, da rief sie ihm etwas zu, machte kehrt und schlüpfte noch einmal in die Drehtür. Für einige Augenblicke blieb sie darin gefangen, denn auf der anderen Seite hatte sich ein älteres Ehepaar, sie mit dickem Pelzmantel und Hutschachtel, in der Tür verklemmt, und erst nach einigem Zerren und Stoßen ging es weiter. Sheila stöckelte auf Perlmann zu und drückte ihm mit scherzhaft aufgeworfenen Lippen einen Kuß auf die Wange. Dann war sie schon
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