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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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werden. Außerdem war der Text, den er kannte, kein verläßlicher Maßstab, da Leskov ihn, wie er gesagt hatte, für die zweite Fassung gründlich überarbeitet hatte.
    Was war es, was er am Montag auf der Fahrt über die neue Fassung gesagt hatte? Mitten in einem Verkehr, der jetzt immer dichter wurde und in dem sich die Lastwagen zu häufen begannen, versuchte Perlmann, sich Leskovs Worte in Erinnerung zu rufen. Er hatte sie wahrgenommen, das wußte er noch. Und irgend etwas war ihm dabei durch den Kopf gegangen. Er schloß die Augen. Auf dem Gesicht spürte er die Hitze von Auspuffgasen. Die Gangschaltung eines Lastwagens krachte. Er sah den Lichtkegel seines linken Scheinwerfers vor sich, dem rechts nichts entsprach. Sonst kam keine Erinnerung. Und einen kurzen, entsetzlichen Augenblick lang hatte er den Eindruck, nicht mehr zu wissen, wie man das machte: sich erinnern. Dann tat er die Karte mit dem Blatt auf den übrigen Stoß und stieg ein.
    Er hätte die Blätter gerne geordnet, um zu sehen, wie groß die Lücken waren, die durch die fehlenden Seiten entstanden – ob es sich jeweils um Lücken von ein, zwei Seiten handelte, die Leskov verhältnismäßig leicht wieder füllen konnte, oder ob es größere Brüche im Text gab, die ihn Wochen kosten würden, weil ein ganzer Gedankengang neu zu erarbeiten war. Aber in dem Zustand, in dem die Blätter waren, ließ sich das nicht ohne eine weitere Beschädigung bewerkstelligen.
    Er war sicher, daß 79 die höchste Seitenzahl war, die er gelesen hatte, darauf hatte er immer als erstes geachtet, und diese Seite lag gesondert neben dem Stoß. Er nahm sie auf und übersetzte mühsam die letzte Zeile, die Leskov in winzigen Buchstaben zwischen zwei durchgestrichene Zeilen gequetscht hatte: Doch das wäre eine falsche Schlußfolgerung. Statt dessen muß man...
    Danach war es nicht unmöglich, daß der Text auf der nächsten Seite zu Ende ging, so daß es nur zehn Seiten waren, die fehlten. Die richtige Schlußfolgerung zu nennen konnte der rhetorische Abschluß und Höhepunkt des Ganzen sein, und das konnte ohne weiteres auf einer einzigen Seite geschehen. Aber natürlich war es genausogut möglich, daß Leskov hier noch einmal Atem geholt und einen neuen Gedanken ins Spiel gebracht hatte, für dessen Entwicklung fünf oder zehn oder noch mehr Seiten nötig gewesen waren.
    Über die untersten Blätter waren viele Reifen hinweggefahren. Geregnet hatte es am Montag nicht. Trotzdem konnte der Dreck von Reifen und Straße als Klebstoff gewirkt haben, so daß an einem Reifen ein ganzer Packen Blätter auf einmal hängengeblieben war. Nicht zwanzig, da hätten einige der untersten sich gelöst, und die hätte er jetzt finden müssen. Zehn? Fünf? Drei? Perlmann wendete und fuhr nach Genua, langsam und mit beiden Händen fest am Steuer.

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    I m ersten großen Kaufhaus ging er in die Schreibwarenabteilung und verlangte dreihundertzwanzig Blatt Löschpapier. Ungläubig wiederholte die Verkäuferin die Zahl, bevor sie ins Lager ging. Perlmann legte die vier Packen ins Auto und ging dann ratlos, mit zögernden Schritten, die Straße entlang. Er stellte sich einen hellen Bibliotheksraum vor, leer und still, wo er auf langen Tischen in Ruhe jedes einzelne Blatt von Leskovs Text säubern und zwischen zwei Löschblätter legen konnte. Ziellos überquerte er die Straße und bog in eine stillere Gasse ein. Von deren Ende her kam das Pausengeschrei einer Schule. Zehn Uhr. Er blieb einen Moment stehen und wippte auf den Fersen. Dann ging er weiter, wich im Hof raufenden Kindern aus und betrat das Schulhaus.
    Auf dem Gang kam ihm eine Frau entgegen, die im weißen Kittel wie eine Ärztin aussah. Ob sie vielleicht ein freies Klassenzimmer für ihn habe, fragte Perlmann. Oder sonst einen Raum mit langen Tischen. Nur für etwa eine halbe Stunde. Er müsse wichtige Papiere trocknen.«Ich... ich weiß, daß das eine ungewöhnliche Bitte ist», fügte er hinzu, als er sah, wie sich ihre Unterlippe nach vorn schob.
    Sie nahm die Brille ab und rieb die Augen, als wolle sie ein Trugbild verscheuchen. Dann musterte sie ihn von oben bis unten, von seinem übernächtigten Gesicht bis zu dem Schuh, der ganz mit angetrocknetem Schlamm überzogen war.
    «Was glauben Sie eigentlich, was das hier ist?»fragte sie kalt.«Ein Asyl der Heilsarmee?»Damit ließ sie ihn stehen und schloß eine Bürotür hinter sich.
    In der übernächsten Gasse kam er an einer kleinen Schreinerwerkstatt vorbei. Mitten im

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