Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
welchem Club?»
Giovanni sah ihn an, als habe er gefragt, von welchem Land Rom die Hauptstadt sei.
«Juve. Juventus Turin. »
«Grazie», sagte Perlmann. Er spürte, wie Giovannis verwunderter Blick ihm folgte.
Er war zum Sonderling geworden.
43
Die Küstenstraße war so leer und still, daß Perlmann die drei oder vier Autos, die ihm entgegenkamen, in ihrer kurzen, gespenstischen Gegenwart augenblicklich wieder vergaß. Rapallo war eine nächtliche Silhouette mit unbeweglichen Lichtern, die an Scherenschnitte und Kupferstiche denken ließ. Die blinkenden Ampeln in den ausgestorbenen Straßen von Recco gaben ihm das Gefühl, durch eine Geisterstadt zu fahren, und die beiden alten Männer, die dicht an den Häusern entlangschlurften, verstärkten diesen Eindruck noch. In den Bauernhäusern an der Strecke nach Uscio brannte vielfach schon Licht. Das Geschrei der allgegenwärtigen Hähne übertönte das leise Motorengeräusch. Perlmann versuchte, nicht an Montag zurückzudenken. Die Hauptsache war, daß es hier in den letzten Stunden offenbar nicht geregnet hatte. Hinter Lumarzo war der Schalthebel aber plötzlich doch feucht vor Schweiß, und er mußte immer öfter schlukken. Auf dem Anstieg zum Tunnel fuhr er mit gestreckten Armen am Steuer und nahm sich vor, nicht hinzusehen und nichts zu denken.
Er bremste ab. Drüben auf der hellgrauen Leitplanke dunkle Streifen. Er gab Gas – nur um den Gang sogleich wieder herauszunehmen. Hier, genau hier habe ich die Hände vom Steuer genommen. Er stand. Es war nichts zu sehen. Es war idiotisch. Wütend ließ er die Reifen quietschen und trat gleich danach voll auf die Bremse, als müsse er in dem leeren Tunnel einen Auffahrunfall verhindern. Der größte Teil des hellen Lehms war mit einer Plane abgedeckt, die man an den Ecken mit Backsteinen beschwert hatte. An der Wand stand eine leere Schubkarre, darunter lag ein unordentlich aufgerolltes Seil. Er hatte nie verstanden, was an dieser Ausweichstelle eigentlich vor sich ging, und auch auf diese neuerliche Veränderung konnte er sich keinen Reim machen. Er wußte, es war Blödsinn und grenzte an Verfolgungswahn, aber er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß man ihn, speziell ihn, und ganz allein ihn, zum Narren halten wollte: daß irgend jemand die Dinge an dieser Stelle immer neu arrangierte, mit dem einzigen Ziel, ihn zu verwirren, seine unnützen Gedanken anzustacheln und seine Beklemmung zu schüren. Er biß auf die Lippen und fuhr aus dem Tunnel. Der Laden der zahnlosen Alten lag im Dunkeln und kam ihm vor wie eine ausrangierte Traumkulisse. Es war Viertel nach sechs und noch finsterste Nacht.
Es konnten nur zwei, höchstens drei Kilometer sein. Nur einige wenige Kurven. Aber hinter dieser Biegung war es noch nicht, und hinter der nächsten auch nicht. Aus dieser Richtung betrachtet sah alles ganz anders aus. Plötzlich, so schnell, daß er es gar nicht glauben wollte, war er schon bei der Tankstelle, wo er den ersten Versuch gemacht hatte, Leskovs Text – auszusetzen. Ja, das war das treffende Wort. Er hielt vor dem dunklen Häuschen und versuchte sich zu erinnern, wie es danach gewesen war. Das Erinnern war zähflüssig, nichts kam von selbst zurück. Im Wagen war es heiß und stickig, er war die ganze Zeit mit voll aufgedrehter Heizung gefahren. Aber vom Lüften wurde ihm kalt, und er ließ die Scheibe wieder hochsurren. Die Gesichtshaut spannte und fühlte sich an wie Papier.
Wozu war er eigentlich hier? Am Ende würde er einen Stoß verdreckter und zerfetzter Blätter in der Hand halten. Und dann? Was in aller Welt wollte er Leskov denn sagen, wenn er ihm den Stoß überreichte? Es müßte, das war klar, eine Geschichte sein, die von einem Versehen, einer Ungeschicklichkeit, einer unbeabsichtigten Dummheit handelte. Und außerdem müßte aus dieser Geschichte hervorgehen, warum er seine Dummheit erst heute, gerade heute, entdeckt hatte. Perlmann spürte, wie sein Kopf leer wurde und wie sich diese Leere mit einer lähmenden Müdigkeit füllte. Es ließ sich mit dem besten Willen und auch bei Aufbietung aller, selbst der abenteuerlichsten Phantasie nicht erklären, wie der Text aus dem geschlossenen Handkoffer und dem geschlossenen Kofferraum hatte in den Dreck hinausgelangen können, ohne daß jemand seine Hände dabei planvoll im Spiel gehabt hatte.
Ein erster Schimmer von diffusem, grauem Licht erhellte die geschlossene Wolkendecke. Ab und zu kam jetzt ein Auto. Wenn er einfach nach Genua
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