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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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weiterfuhr, war er kurz vor acht am Flughafen, und dann würde bald der Schalter von AVIS aufmachen. Aber ich kann die Blätter doch nicht einfach hier liegen- und vermodern lassen. Das ist ausgeschlossen. Er muß den Text zurückbekommen. Irgendwie.
    Perlmann fuhr langsam los, noch langsamer als am Montag. Dort vorn in der Kurve war der Lastwagen mit den aufgeblendeten Lichtern aufgetaucht, den er erst noch vorbeigelassen hatte. Und tatsächlich: Vor der Kurve lag auch schon das erste helle Blatt im Straßengraben. Der Anblick elektrisierte ihn, und mit einemmal war er hellwach. Hastig, als könne sich das Papier im letzten Moment seinem Zugriff entziehen, stieg er aus und bückte sich. Es war ein Stück halbdurchsichtiges, zerknittertes Einwickelpapier. Er konnte seine Hand nicht bremsen, sie mußte es anfassen. Jetzt hatte er Mayonnaise an den Fingern. Angeekelt rieb er sie an der Hose ab und stieg wieder ein.
    Die nächste Kurve konnte es auch nicht gewesen sein, da war weit und breit kein Papier zu sehen. Es war die übernächste. Perlmann sah die vielen hellen Blätter im Graben schon von weitem und beschleunigte wie auf einer Zielgeraden. Er parkte mit zwei Rädern im Graben, kletterte aus dem schräg stehenden Wagen und lief atemlos hin. Die Blätter lagen oft weit auseinander, aber an zwei Stellen waren mehrere aufeinander gefallen und bildeten unregelmäßige Häufchen. Perlmann legte sie auf den Kühler. Gestern mußte hier die Sonne geschienen haben, die beiden obersten Blätter waren jeweils getrocknet. Das blasse Gelb war fast vollständig ausgeblichen, die Blätter wellten sich, und es sah aus, als hätten sie Blasen. Dann kamen einige, die feucht geblieben waren, und darunter mehrere, die in der Mitte gar keinen Regen abbekommen hatten. Nur an den Rändern waren sie alle naß und grau vor Schmutz. Auf den obersten Blättern war die Tinte zerlaufen, die beiden ersten waren nur noch schwer lesbar, dann wurde es besser.
    Bisher waren es siebzehn Blätter, darunter die Seite 77. Jetzt kamen die einzelnen, weit verstreuten Blätter im Graben an die Reihe. Als Perlmann sich nach dem ersten bückte, fuhr ein Auto vorbei, und der Fahrtwind wehte drei Seiten vom Kühler herunter. Er hastete zurück und sammelte sie auf. Die eine Seite war unter die Räder geraten und eingerissen worden. Verärgert legte er den gesamten Stoß auf die Fußmatte vor dem Beifahrersitz. Aus dem Graben kamen zwei Dutzend Seiten zusammen. Die Hälfte war vollständig verschmiert, aber Leskov würde den Text noch rekonstruieren können. Bei den anderen, die mit der Schrift nach unten gelegen hatten, war es etwas besser. Aber auch bei ihnen hatten sich die runden Buchstaben von Leskovs sorgfältiger Handschrift häufig an den Rändern aufgelöst und flossen nach außen. An diesen Stellen war der Grund nicht mehr gelb, sondern ein verwaschenes Hellblau, das ins Grün hinüberschimmerte. Aber der Text war noch leserlich. Die Blätter, die in einer Schneise gelegen hatten, waren von der Sonne getrocknet worden und bogen sich, die anderen waren aufgeweicht und eklig anzufassen.
    Danach mußte Perlmann die steile Böschung oft weit hinaufsteigen, um das nächste Blatt zu holen. An vielen klebte Erde, einige waren zerknittert und hatten Risse. Einmal glitt er auf dem feuchten Untergrund aus, aus dem Fußgelenk durchfuhr es ihn wie mit Messern, und er wäre fast gestürzt. Im letzten Moment konnte er sich an einem Grasbüschel festkrallen. Nun hatte er Erde unter den Fingernägeln. Von hier bekam er vierzehn Seiten zusammen, unter anderem die Seite 79, auf der zwar unten ein bißchen Raum war, die aber noch nicht die letzte sein konnte, da keine Adresse draufstand. Es fehlten also noch mindestens fünfundzwanzig Blätter. Erschöpft lehnte er sich an den Kühler und rauchte.
    Mittlerweile war es zwanzig vor acht und taghell. Der Verkehr nahm zu, und jetzt kam ihm der erste Lastwagen entgegen. Er hatte eine viel zu schmale Stoßstange und einen ungeschützten Benzintank. Als er vorbei war, kam Perlmann, der mitten in einer schwarzen Rauchwolke stand, mit Staunen und Erleichterung zu Bewußtsein, daß das Herzklopfen ausgeblieben war. Nur die Zigarette war ihm unbemerkt auf die Straße gefallen. Es war, dachte er, als habe sich zwischen ihm und den Lastwagen eine erste dünne Trennwand gebildet, eine erste schützende Distanz, die sich mit der Zeit immer weiter vergrößern würde, bis er eines Tages auch den roten Nebel würde vergessen

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