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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Raum standen zwei lange, leere Tische. Ein Mann in einem Sessel las die Zeitung. Perlmann wappnete sich für eine erneute Abfuhr und stieg die beiden Stufen hinunter. Ob er die beiden Tische für ein paar Minuten benützen dürfe, um wichtige Papiere zu... ordnen. Er würde dafür auch bezahlen, die Tische sozusagen mieten, fügte er hinzu, als sich das Gesicht des Mannes verdüsterte.
    «Chiuso», sagte der Mann unwirsch und hielt die Zeitung vors Gesicht.
    Der Verrückte mit den wichtigen, nassen Papieren. Der Irre von Genua mit den tausend Löschblättern . Perlmann stellte sich in einen Hausflur und wartete, bis der Regenguß vorbei war.
    Er konnte ihm den Text anonym nach St. Petersburg schicken. Die Adresse war bei Frau Hartwig im Büro. Aber woher wußte der unbekannte Absender die Adresse, wo doch die letzte Seite fehlte? Das ging nicht. Er würde sich in Verdacht bringen. Er konnte ihm den Text weder geben noch zuschicken. Was wollte er also hier mit Hunderten von Löschblättern? Der Irre mit den Löschblättern .
    Unweit vom Auto stieß er in einer Seitenstraße auf eine Bar mit breiten Ablagebrettern entlang den Wänden. Ob er auf der Ablage für einen Moment einige Papiere ausbreiten dürfe, fragte er, nachdem er Kaffee und ein belegtes Brot bestellt hatte.
    «Solange Sie mir damit keine Kunden vertreiben», war die Antwort.
    «Mamma mia », sagte der Wirt, als er Perlmann mit dem feuchten, seitlich herunterhängenden Blätterstoß und zwei Packen Löschblättern zurückkommen sah.
    Perlmann fing an, jedes Blatt mit größter Sorgfalt vom Stapel zu lösen und zwischen zwei Löschblätter zu legen. Jetzt bräuchte er noch ein Blatt Papier, um sich etwas zu notieren, sagte er zum Wirt.
    «Sonst noch was?»gab der ironisch zurück und reichte ihm einen Abrechnungsblock, der demjenigen in der Hafenkneipe am Freitag aufs Haar glich.«Vielleicht noch ein Stift gefällig?»
    Perlmann grinste und holte seinen eigenen aus der Jacke. Er notierte die Seitennummern und machte entsprechende Häufchen. Das Löschpapier wurde blau und braun. Der Wirt kam hinter der Theke hervor und warf einen neugierigen Blick auf den gelben Stoß.
    «Was ist das denn für eine Sprache?»
    «Russisch», sagte Perlmann.
    «Dann können Sie also Russisch?»
    «Nein», erwiderte Perlmann.
    «Jetzt versteh’ ich gar nichts mehr», sagte der Wirt.«Und dann all der Dreck auf den Blättern! Mamma mia!»
    Der Irre mit dem verdreckten russischen Text, den er nicht lesen kann.
    In den dreißiger Seiten gab es eine Lücke von drei Blättern, ferner fehlten gegen Ende zwei Seiten hintereinander. Sonst waren es Lücken von nur einer Seite. Auf Seite 3 kam die erste Zwischenüberschrift: 1. Vspomnisciesja sceny. Erinnerte Szenen. Die Zwischentitel 2 und 3 mußten auf fehlenden Blättern stehen. Und wahrscheinlich gab es gegen Ende auch einen Abschnitt Aneignung, oder so ähnlich.
    Es hätte viel schlimmer kommen können, dachte Perlmann, als er die verpackten Seiten aufeinanderlegte. Falls nicht am Schluß noch ein langes und entscheidendes Stück fehlte, würde Leskov zurechtkommen.
    «Mamma mia!» rief der Wirt und warf mit ironischer Theatralik die Hände in die Luft, als ihn Perlmann jetzt noch um ein Stück Schnur bat. Er sah ihm zu, wie er das Ganze vorsichtig verschnürte.«Und was wollen Sie jetzt damit?»
    «Keine Ahnung», sagte Perlmann und aβ sein Brot.
    « Buona f o rtuna !»rief ihm der Wirt nach, und es klang, als würde er einen hoffnungslos verwirrten, aufs äußerste gefährdeten Menschen in die rauhe Welt hinaus entlassen.
     
    Zusammen mit dem restlichen Löschpapier verstaute Perlmann den verschnürten Packen im Handkoffer. Dann fuhr er zum Flughafen. Der Mann mit der roten Mütze stand gelangweilt neben seinem Häuschen und rauchte. Perlmann wußte nicht warum, aber dieser Mann, bei dessen Anblick ihm heiß wurde, erinnerte ihn daran, daß er noch etwas hatte tun wollen, etwas Heimliches. Er wendete und fuhr ein Stück zurück bis hinter eine Hecke. Die Erschöpfung blockierte das Gedächtnis. Erst als er mit dem Blick das Pflaster am Finger streifte, fiel es ihm ein. Er holte den Schraubenzieher und den englischen Schlüssel aus dem Kofferraum. Dann blickte er kurz um sich und setzte den Schraubenzieher an, genau dort, wo die beiden Münzen sich berührten. Beim dritten kräftigen Schlag knarrte der schwarze Kasten, und die Münzen fielen auf das andere Geld. Der Gurt scheuerte ein bißchen, lief aber sonst einwandfrei.

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