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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Beim Zuschlagen der Tür bemerkte er unten an der Ecke den abgesprungenen Lack. Das stammte nicht von den Leitplanken im Tunnel. Es mußte passiert sein, als Leskov sich bei der Tankstelle aus dem Wagen gehievt hatte und die Tür gegen den Betonsockel mit dem Luftdruckmesser geprallt war. Dort, wo er mich beinahe erwischt hätte .
    Perlmann nahm den Handkoffer vom Rücksitz, schloß den Wagen ab und warf noch einen Blick auf den Fahrersitz. Die Blutflecke auf dem hellen Leder sahen fast schwarz aus.
    «Auf diesen Wagen warten wir seit zwei Tagen, Signore», sagte die Dame von AVIS. Jetzt erkannte sie ihn wieder, und ihr Ton wurde frostig.«Warum haben Sie sich denn nicht gemeldet? Wir müssen doch auch unsere Arbeit tun. »
    An die Mietfrist hatte Perlmann bis jetzt keinen Moment lang gedacht. Mit Verblüffung spürte er, daß er für die Rüge dankbar war. An einen Vertrag erinnert zu werden, das bedeutete, in die normale Welt, in das normale Leben zurückgeholt zu werden, in dem die Dinge einen geregelten Verlauf nahmen. Es war, als werde ihm die Erlaubnis erteilt, die private Zeit seines Alptraums mit ihrer gegenwartslosen Hektik zu verlassen und in die öffentliche, in gewöhnlichem Tempo fließende Zeit zurückzukehren.
    «Es... ging nicht anders», sagte er und versuchte ein Lächeln.«Es tut mir leid, aber es ging wirklich nicht anders. »
    «Besondere Vorkommnisse?»fragte die Frau in unversöhnlichem Ton und rückte ihre modische Brille zurecht.
    Perlmann holte Atem.«Ja», sagte er,«ich bin abgedrängt worden und bin auf eine Leitplanke gefahren. Die rechte Seite des Wagens ist beschädigt. »
    «War die Polizei da?»
    «Nein», sagte er und schnitt ihr rasch die nächste Frage ab,«der fragliche Wagen war verschwunden, noch ehe ich stand. »
    «Sie hätten trotzdem die Polizei holen müssen», sagte sie scharf und holte ein Formular aus der Schublade.«Wo war das?»
    Er machte die richtigen Angaben und unterschrieb.
    «Eine halbe Million Selbstbeteiligung», sagte sie nach einem Blick auf den Versicherungsschein.«Wird Ihrer Karte belastet, zusammen mit dem anderen. »
    Perlmann nahm den Handkoffer und ging hinauf in die Bar. Heute war es ein anderer Kellner, und sonst war nur noch ein junges Mädchen in Turnschuhen da, das einen Eisbecher löffelte und oft auf die Uhr sah. Erst nach und nach spürte er, wie erleichtert er war, das Auto los zu sein. Der Himmel hatte sich verdunkelt, und die Halle war in ein trübes Novemberlicht getaucht. Die Nüchternheit, die in diesem Licht lag, gefiel ihm. Er wurde ruhig, und während er in langsamen, tiefen Zügen rauchte, dachte er immer wieder: Es ist vorbei. Vorbei. Am Samstag reisten sie alle ab, Leskov am Sonntag morgen. In vier Tagen um diese Zeit war er selbst auf dem Heimflug und abends in der vertrauten Wohnung. Die Erschöpfung verwandelte sich in leise Zuversicht. Er zahlte und schlenderte, die Hände in den Hosentaschen, hinüber zur Treppe, die zur Aussichtsterrasse hinaufführte. Er wollte die Rollbahn am Wasser sehen und sich vorstellen, wie seine Maschine am Sonntag draußen über dem Meer in einer großen Schleife immer mehr an Höhe gewinnen würde.
    «Ihr Koffer, Signore.»Das Mädchen in den Turnschuhen war gerannt. Perlmann nahm ihr den Handkoffer ab und gab sich Mühe, seine Gefühle zu verbergen.
    «Oh, ja, vielen Dank, das ist sehr nett von dir. »
    Das Mädchen ging zurück zu seinem Eis. Er wurde von einer hilflosen Wut gepackt und blieb mit leerem Blick auf der Treppe stehen. Vorhin, mit den Händen in den Taschen, war er sich sonderbar leicht und frei vorgekommen, geradezu unwirklich frei. Aber er hatte nicht wissen wollen, warum, und war in planvoller Gedankenlosigkeit einfach dem Impuls gefolgt, mit dem Auto die ganzen letzten Tage hinter sich zu lassen, mit allem, was dazu gehört hatte. Es war wie der erste ungebremste Atemzug nach einem drohenden Ersticken gewesen. Und jetzt hing der Handkoffer mit Leskovs Text, einer aberwitzigen Menge Löschblätter, dem schwarzen Heft und den lächerlichen Requisiten aus dem Rathaus bleischwer an seinem Arm. Es kam ihm vor, als sei der ganze Alptraum der letzten Tage in kompakter Form in diesem Koffer enthalten, auf dem seine Initialen eingraviert waren.
    Er betrat die Terrasse und lehnte sich auf die Brüstung. Eine Maschine der Lufthansa rollte an den Start. Er sah auf die Uhr. Meine Maschine. Als sie donnernd abhob, genau in dem Moment, in dem die hinteren Reifen die Berührung mit der Piste

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