Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
verloren, hatte er das Gefühl, es keine Minute länger aushalten zu können. Es mußte zu Ende sein mit Aufzeichnungen und Texten und Übersetzungen und Kopien und Lügen und Finten und Heimlichtuereien. Das mußte jetzt aufhören. Es mußte aufhören. Genau jetzt. Jetzt.
Sein Fuß streifte den Handkoffer. Wie in Trance steckte er beide Hände in die Jackentaschen, senkte den Kopf und ging mit großen Schritten und flatternden Hosen zur Tür. Er wäre fast mit dem Mädchen in Turnschuhen zusammengestoßen. Sie sah auf die Uhr und zeigte auf eine Maschine im Anflug.« Mio padre!» Dann schlüpfte sie an ihm vorbei durch die Tür und begann zum Geländer zu laufen. Perlmann gab auf. Langsam folgte er ihr. Als sie sich umdrehte und lachend auf den Koffer zeigte, hob er dankend die Hand. Die Maschine der Lufthansa verschwand in der Wolkendecke.
Das Problem mit der Adresse, die der anonyme Absender nicht kennen konnte, war nicht das einzige, dachte Perlmann im Zug. Es gab für Leskov nur drei Orte, an denen er den Text hätte liegenlassen können: Moskau, Frankfurt oder das Flugzeug. Und es ließ sich einfach nicht erklären, wie die Blätter in einem Flughafengebäude oder einem Flugzeug in diesen Zustand hatten gelangen können. Und wie eine ganze Reihe von ihnen spurlos hatte verschwinden können.
Wenn man beide Punkte zusammenzählte, blieb Leskov nur eine einzige Hypothese: Jemand, der seine Adresse unabhängig vom Text kannte, hatte mit den Blättern unter freiem Himmel etwas Sonderbares angestellt und schickte sie ihm nun aus schlechtem Gewissen zu. Und es gab an jenem Tag nur eine einzige Person, die mit ihm zusammen draußen gewesen war und an den Handkoffer hatte herankommen können: Philipp Perlmann, der seine Adresse seit langem kannte. Wenn Leskov die Fahrt in Gedanken durchging, sah er rasch, daß es tatsächlich zwei Stellen gab, wo es hatte geschehen können: die Tankstelle und den Halt auf offener Strecke kurz danach. Die Kürze der Zeit in beiden Fällen konnte nur eines bedeuten: Perlmann hatte nicht irgend etwas Unbekanntes, Unerklärliches mit dem Text angestellt – er hatte ihn ganz einfach weggeworfen.
Aber warum, um Gottes willen? Wie konnte er ihm schaden? Was hatte er von einem Text zu befürchten, den er gar nicht kannte? Er besaß die erste Fassung, und möglicherweise hatte er sie eben doch gelesen. Dann gab es... ja, genau, dann gab es nur eine einzige Bedingung, unter der die zweite Fassung eine Bedrohung für ihn hatte darstellen können: Wenn er die erste Fassung, natürlich als Übersetzung, als seinen eigenen Text ausgegeben hatte.
An dieser Stelle würden Leskovs Gedanken ganz, ganz vorsichtig werden, und er wäre froh, daß sie nur sehr zögerlich kamen. Es war unlogisch, den bedrohlichen Text wegzuwerfen, wo doch sein Autor, der das Plagiat viel direkter und schneller aufdecken konnte, neben ihm im Wagen saß. Logisch war das nur, wenn -. Der Tunnel.
Es war ausgeschlossen, den Text nach St. Petersburg zu schicken. Es blieb nur eines: ihn zum zweitenmal wegzuwerfen. Den sorgfältig konservierten, sozusagen restaurierten Text in eine Mülltonne werfen, wie gehabt. Oder unauffällig verlorengehen lassen. Perlmann warf einen Blick auf die Initialen neben dem Schloß des Koffers. Dann, als durch den Lautsprecher Santa Margherita angekündigt wurde, nahm er mit kalten Fingern die Urkunde, die Medaille und das schwarze Heft heraus. Den Koffer ließ er im leeren Abteil auf der Bank und ging rasch nach vorn zur Wagentür. Die Räder quietschten auf den Schienen. Jemand neben ihm öffnete die Tür. Du weißt ja , was für mich von diesem Text abhängt. Die schwarzen Listen gibt es immer noch, und ich stehe gleich auf mehreren. Perlmann rannte zurück, nahm den Koffer und stieg aus.
Leskov saß neben Maria im Büro und starrte, nach vorn gebeugt und die Hände zwischen den Knien, auf den Bildschirm. Perlmann wußte nicht sofort, warum ihn dieser Anblick alarmierte. Erst im Aufzug wurde es ihm klar: Seine Übersetzung, der betrügerische Text, war ja noch dort unten im Computer gespeichert. Gewiß, Maria hatte keinen Grund, diesen Text in Leskovs Gegenwart auf den Bildschirm zu holen. Aber so etwas konnte ganz leicht aus Versehen passieren. Höchstwahrscheinlich hatte sie für die Gruppe ein eigenes Verzeichnis angelegt. Ein, zwei falsche Tasten, und Leskov würde lesen: THE PERSONAL PAST AS LINGUISTIC CREATION. Der Titel würde ihn elektrisieren, und er würde sich noch weiter
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