Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
können. Vorausgesetzt, er hat seinen Text wieder.
Es waren erstaunlich viele Blätter auf die Böschung geweht worden, die auf der anderen Seite der Straße nach unten abfiel. Der Boden dort war weich und feucht, und einmal versank Perlmann bis über den Schuhrand im Morast. Die Blätter hatten auf den Grasspitzen aufgelegen und waren nur wenig verschmutzt. Mit zwei Ausnahmen hatten sie mit der Schrift nach unten gelegen und waren noch lesbar. Jetzt hatte er insgesamt siebenundsechzig Seiten geborgen. Er suchte mit den Augen einen größeren Umkreis ab, langsam, methodisch, Fleck für Fleck, das Ganze dreimal. Nicht das geringste Gelb war mehr auszumachen. Die aufgehende Sonne drückte durch die Wolkendecke, und Perlmann sah blinzelnd hoch. In den Spitzen zweier hoher Büsche hing noch je ein Blatt. Es dauerte zum Verzweifeln lang, bis sie schließlich heruntersegelten, und er mußte mit seinem wütenden Schütteln einen komischen Anblick geboten haben, denn der gelbe Schulbus fuhr auffallend langsam, und die Kinder zeigten lachend auf ihn.
Das eine Blatt war die erste Seite mit dem Titel. Name stand keiner darunter. Das Blatt war geknickt und hatte von einem Zweig ein Loch bekommen, aber das Lesen war kein Problem. Jetzt fehlten noch mindestens elf Seiten. Perlmann blickte auf die Räder der vorbeifahrenden Autos und stellte sich vor, wie die Blätter vielleicht an solchen Reifen haftengeblieben und dann rhythmisch zwischen Gummi und Asphalt gepreßt worden waren, um schließlich zerfetzt irgendwo liegenzubleiben.
Als die Straße für eine Weile leer blieb, fiel sein Blick auf ein braunes Rechteck, das einen Teil der weißen Markierung in der Straßenmitte verdeckte. Es war eine Seite von Leskovs Text, von Regen und Schmutz durchtränkt und zahllose Male überfahren. Er hob es an einer Ecke an, aber das Papier war mürbe und riß sofort ein. Eine Unterlage. Ratlos öffnete er das Handschuhfach und sah die Landkarte, die Signora Morelli ihm Samstag nacht geliehen hatte. Er faltete sie zur Hälfte auf und schob sie vorsichtig, Zentimeter um Zentimeter, unter das matschige Blatt. Auf dem Deckel des Kofferraums fing er an, die Seite mit dem Taschentuch sorgfältig abzutupfen, als sei es ein wertvoller archäologischer Fund.
Es war die Seite 58. In der Mitte hatte Leskov eine Zwischenüberschrift hingeschrieben. Es war gerade noch soviel zu erkennen, daß es sich um zwei ziemlich lange Wörter gehandelt hatte, davor die Ziffer 4. Aber die Tinte war nahezu vollständig zerlaufen, sie hatte sich mit dem Dreck vermischt, und es war nur noch ein Geschmiere übrig. Perlmann wischte mit einem anderen Zipfel des Taschentuchs noch einmal über die Wörter. Vielleicht ließ sich etwas von den alten Tintenspuren, die in St. Petersburg aufs Papier gekommen waren, freilegen, wenn man die verdünnte und zerlaufene Tinte, die nun darüber lag, wegtupfte. Und tatsächlich wurden Anhaltspunkte sichtbar. Aber sie reichten nicht, um eine eindeutige Wortfolge auszumachen. Er zündete eine Zigarette an. Das letzte Wort, da wurde er sich immer sicherer, mußte prosloe, Vergangenheit, gewesen sein. Aber er konnte sich nun mindestens drei Varianten vorstellen: iskaennoe prošloe, die entstellte Vergangenheit; pridumannoe prošloe, die erfundene Vergangenheit; obmančivoe prošloe, die trügerische Vergangenheit . Und sogar noch eine vierte: zastyvšee prošloe, die geronnene Vergangenheit . Daß er zastyvat’, gerinnen, kannte, hatte er einem Betrachter von Agnes’ Fotografien zu verdanken, der es gewagt hatte, ihre besondere Art, die lebendige Gegenwart im Bild festzuhalten, mit dem Prozeß der Gerinnung zu vergleichen. Ihr Zorn war maßlos gewesen, denn gerinnen war ihr Wort für den Prozeß, in dem die Leute durch ihre Konventionen zu leblosen Figuren erstarrten. Und um an ihrer Wut nicht zu ersticken, hatte sie nachher zu Hause etwas getan, was sonst seine Gewohnheit war: Sie hatte das Wort in allen erreichbaren Wörterbüchern nachgeschlagen.
Hastig rauchend verglich Perlmann die Wörter, die er ausprobierte, immer wieder mit den mageren Tintenspuren. Aber die unscharfen Linien ließen einfach keine Entscheidung zu. Er maß seine Vermutungen an dem, was er von Leskovs Gedanken im Kopf hatte, und an dem Wortschatz, den er sich aus seinem Text angeeignet hatte. Aber auch dadurch kam keine Eindeutigkeit zustande. Der Eingriff der Sprache ins Erinnerungsgeschehen konnte nach der ersten Fassung auf alle vier Weisen charakterisiert
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