Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
kommen würde. Schließlich hatte er doch gestern schon, als er mit Evelyn Mistral sprach, vor dieser Frage gezittert. Warum also hatte er sich in der Zwischenzeit keine geschickte Antwort zurechtgelegt? Er hätte sie richtiggehend ausarbeiten und dann so lange memorieren müssen, bis er sie im Moment, wo sie gebraucht wurde, als etwas abrufen konnte, was er mit vollkommenem Gleichmut vortrug und für die kurze Zeitspanne des Vortrags sogar glaubte – eine inszenierte Selbsttäuschung, die ihm als Versatzstück seiner Fassade jederzeit zur Verfügung stünde. So aber wird es vollkommen zufällig sein, was ich sage.
Perlmann hätte nachher nicht sagen können, welches Thema Adrian von Levetzov skizziert hatte. Während er selbst fieberhaft nach Formeln suchte, die er nachher zum Schein eines Themas zusammenfügen konnte, drang nur der selbstgefällige, manierierte Ton seines Englisch zu ihm durch. Erst gegen Ende, als von Levetzov auf eine Zwischenfrage von Ruge hin noch einmal ausholte, begann Perlmann, einzelne Wörter zu unterscheiden. Doch es war sonderbar: Statt die Wörter in der ihm vertrauten Bedeutung aufzunehmen und durch sie hindurch in den ausgedrückten Gedanken zu schlüpfen, nahm er an ihnen nur wahr, daß sie zum größten Teil Fremdwörter waren, Jargon-Ausdrücke lateinischer oder griechischer Herkunft, die in ihrer Verkettung eine Art Esperanto ergaben. Er fand sie lächerlich, diese Wörter, geradezu affig, und dann stieg plötzlich wieder diese gespenstische Unsicherheit in ihm auf, die ihn seit einiger Zeit immer häufiger zum Lexikon greifen ließ. Da überfiel ihn jeweils aus heiterem Himmel das Gefühl, einen technischen Ausdruck, den er Tausende von Malen gelesen hatte, eigentlich gar nicht in seiner genauen Bedeutung zu kennen; er hatte eine irritierende Unschärfe, die an eine verwackelte Fotografie erinnerte. Und doch stellte er dann jedesmal, wenn er das Lexikon zu Hilfe nahm, dasselbe fest: Er hatte genau die richtige Definition im Kopf gehabt; etwas Genaueres gab es da nicht zu wissen. Unschlüssig, ob ihn diese Entdeckung beruhigte, oder ob die Unsicherheit wuchs, weil es überhaupt einer solchen Entdeckung bedurft hatte, stellte er das Lexikon zurück ins Regal. Und nicht selten schlug er dasselbe Wort nach wenigen Tagen von neuem nach.
Laura Sand hatte, als sie an die Reihe kam, eine Zigarette zwischen den Lippen und versuchte zu verhindern, daß ihr der Rauch in die Augen geriet. Ihre anfänglichen Sätze kamen nur stockend, während sie in ihren Papieren etwas suchte, und wer nicht gewußt hätte, daß ihre Bücher über Tiersprachen zum Besten gehörten, was es zu dem Thema gab, hätte das für ein Zeichen der Unsicherheit gehalten. Schließlich fand sie das Blatt, nach dem sie gesucht hatte, ließ ihren Blick darübergleiten und begann, sehr konzentriert und flüssig über die Experimente zu sprechen, die sie in den letzten Monaten in Kenia gemacht hatte. Was sie sagte, war wunderbar knapp und klar, dachte Perlmann, dazu vorgetragen in dieser dunklen, stets eine Spur gereizten Stimme, die sich dann, wenn sie etwas unterstreichen wollte, in den breiten australischen Akzent hineinfallen ließ, der sonst hinter einem unauffällig britischen Englisch verborgen blieb. Wie gestern bei der Ankunft war sie ganz in Schwarz gekleidet, das einzig Farbige an ihr war das Rot in dem Siegelring am kleinen Finger der rechten Hand.
Wieder verbarg Perlmann das Gesicht hinter den Händen und versuchte sich krampfhaft an die fachlichen Fragen zu erinnern, denen er zuletzt nachgegangen war, damals, als ich noch dabei war. Aber es kam nichts. Nur Leskov tauchte plötzlich im inneren Gesichtsfeld auf, Leskov mit der großen Pfeife zwischen den schlechten, vom Tabak braun gefärbten Zähnen, sein massiger Körper eingesunken in das abgewetzte, schmutzig graue Polster des Sessels im Foyer des Konferenzgebäudes. Perlmann versuchte wegzuhören, als die so plastisch erinnerte Gestalt darüber redete, wie tief Wörter ins Erleben eingriffen. Er brauchte diese Gestalt nicht, sagte er sich, er brauchte sie wirklich in keiner Weise, denn es gab doch das schwarze Heft mit seinen eigenen Aufzeichnungen. Wenn er nur schnell nach oben gehen und einen Blick hineinwerfen könnte.
Giorgio Silvestri hielt ein Knie gegen die Tischkante gestemmt und balancierte auf den hinteren Beinen des Stuhls. Den linken Arm ließ er nach hinten hängen, den rechten stützte er auf die Lehne, eine Zigarette zwischen den langen,
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