Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
wieder aufnahm, kribbelte es.
«Tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe», sagte Kirsten,«ich bin einfach so daran gewöhnt, daß wir um diese Zeit telefonieren. »
«Schon gut», sagte er und war froh, daß es nicht zu verwaschen klang.
Die Sache mit der Wohngemeinschaft habe sich gut angelassen, erzählte sie; nur die eine Frau sei etwas schwierig.«Und stell dir vor: Heute habe ich mich für mein erstes Referat gemeldet. Über Faulkners The Wild Palms, den Doppelroman. Und dann stellte sich heraus, daß ich schon heute in vierzehn Tagen dran bin! Es wird mir ganz anders, wenn ich daran denke. Hoffentlich muß man da nicht auch noch vorne sitzen! »
Perlmann war einsilbig und sammelte immer wieder Speichel gegen die trockene Zunge. Ja, sagte er am Schluß, es sei alles in Ordnung; auch das Hotel und das Wetter.
«Und hast du auch die Russisch-Sachen mitgenommen?»fragte sie noch.
Eine halbe Stunde nach der anderen verrann, ohne daß Perlmann in den Schlaf zurückfand. Inmitten einer vergifteten Müdigkeit blieb eine Insel von trockener, nie erlöschender Wachheit. Um halb zwei telefonierte er hinunter zum Empfang und bat zur Sicherheit darum, um sieben geweckt zu werden. Dann nahm er die zweite Hälfte der Schlaftablette.
4
Er war noch umfangen von einer bleiernen Müdigkeit, als der Weckanruf kam, von sehr weit her, wie ihm schien. Er murmelte ein Grazie und legte auf. Gleich darauf klingelte der Wecker. Auf dem Bettrand sitzend beugte er sich vornüber und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen. Er hatte das Gefühl, tief geschlafen zu haben in dem Sinne, daß eine Zeitspanne vollständigen Vergessens zwischen dem jetzigen Moment und den gestrigen Ereignissen lag. Trotzdem fühlte er sich unsicher, als ginge er auf ganz dünnem Eis, und direkt über den Augen drückte es, als habe ihm jemand Blei in die Stirnhöhlen gegossen. Er verfluchte die Schlaftablette.
Nachdem er sich zunächst verwählt hatte und bei der Wäscherei gelandet war, bestellte er beim Zimmerservice Kaffee. Während er auf den Kellner wartete, stand er in der kühlen Luft am offenen Fenster und sah zu, wie drüben bei Sestri Levante die Lichter erloschen. Wieder einmal ein Sonnenaufgang, ohne jede Gegenwart, das gewohnte transparente Blau, das durch den feinen Morgennebel sikkerte, aber alles wie in einem zu oft gesehenen Film, und dieses Mal noch mehr als sonst getrennt von ihm durch eine Wand von Müdigkeit und pochenden Kopfschmerzen.
Er hatte nicht die Kraft zu protestieren, als der Kellner ein Tablett mit einem üppigen Frühstück auf den runden Tisch stellte. Hastig goß er drei Tassen Kaffee in sich hinein, nahm ein Aspirin und zündete eine Zigarette an. Nach den ersten Zügen spürte er einen leichten Schwindel, aber die Empfindung war viel schwächer als gestern. Jetzt kam aus Millars Zimmer Musik. Bach. Perlmann ging unter die Dusche, wo er trotz des heißen Wassers fröstelte. Nachher trank er den restlichen Kaffee. Jetzt schmeckte die Zigarette nur noch bitter. Viertel vor acht. Ab acht würden die anderen zum Frühstück gehen. Es genügte, wenn er gegen halb neun erschien. Mit einemmal wußte er nicht so recht, was er mit der verbleibenden Zeit anfangen sollte, außer darauf zu warten, daß Millar zum Frühstück ging und die Musik aufhörte.
Er griff zu Leskovs Text. Der erste Satz nach der gestrigen Markierung war schwierig, und Perlmann nahm Papier und Bleistift zu Hilfe, um sich die verschachtelte Konstruktion klarzumachen: Ich werde darlegen, daβ und in welchem Sinne wir dadurch, daβ wir unsere Erinnerungen in Worte fassen, diese Erinnerungen und damit die eigene erlebte Vergangenheit allererst schaffen. Die Musik hörte auf, und kurz darauf fiel Millars Tür ins Schloß. Langsam trank Perlmann den Orangensaft und aß ein Hörnchen, dann noch eines. Er brauchte ja beim Frühstück unten nur etwas zu trinken. Die Kopfschmerzen ließen nach, er schloß die Augen und lehnte sich im Sessel zurück. Vergangenheit schaffen durch das Erzählen von Erinnerungsgeschichten, das schien die Idee zu sein. Aufgeregt suchte er im Handkoffer nach dem schwarzen Notizheft. Er wußte nicht mehr was, aber irgend etwas hatte dieser Gedanke auch mit seinen eigenen Aufzeichnungen zu tun.
Die Tür von Ruges Zimmer schnappte zu, und wenige Augenblicke später hörte Perlmann sein Schneuzen, das im Hotelflur viel gedämpfter klang. Plötzlich war er auf schmerzhafte Weise hellwach: Er hatte ja überhaupt keinen Vorschlag für
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