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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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die Organisation der Arbeit während der kommenden Wochen vorbereitet. Er steckte das schwarze Heft wieder zurück. Es war ihm unverständlich, wie er das hatte vergessen können, er, der sonst immer alles minuziös vorzubereiten pflegte. Wäre er später aufgestanden und gleich hinunter zum Frühstück gegangen, wäre es ihm womöglich erst beim Betreten der Veranda eingefallen. Es war, als ob der Schreck ihn bis tief hinein spaltete, und einen flüchtigen Moment lang hatte er eine Ahnung davon, wie es sein mußte, wenn man sich selbst abhanden kam.
    Hastig wusch er sich das Gesicht mit kaltem Wasser, überlegte einen Moment, ob er noch einmal Kaffee bestellen sollte, nahm dann Schreibblock und Taschenkalender und setzte sich an den Schreibtisch. Nein, Ruge saß ihm doch jetzt gar nicht gegenüber. Und ohnehin war die Wand eine Wand und keine Einwegscheibe. Die pochenden Kopfschmerzen waren wieder da, und während er die fünf Wochen als Spalten zeichnete, umfaßte er mit der anderen Hand die Stirn und drückte so fest, als wolle er sie zerquetschen.
    Sieben Blöcke von zwei Tagen, in denen man sich in der Veranda zusammenfand, um die laufende Arbeit eines jeden zu besprechen. Drei Tage pro Woche, um Einzelgespräche zu führen oder sich zurückzuziehen. Das klang nach der richtigen Dosierung. Perlmann markierte jeweils Montag und Dienstag sowie Donnerstag und Freitag. Er selbst würde den letzten Block nehmen. Aber auch so blieben ihm, das sah er mit Entsetzen, nur drei Wochen, und nicht einmal ganz drei, denn zwei, drei Tage mußten die anderen ja jeweils zum Lesen haben. Er mußte um jeden Preis erreichen, daß er in die letzte, noch ganz freie Spalte kam, und zwar in die untere Hälfte, so daß er immerhin vier Wochen hatte; das war das absolute Minimum. Das hieß, zwei Wochenhälften mit irgendeiner Begründung freizuhalten. Er sah auf die Uhr: fünf nach halb neun. Er zündete die drittletzte Zigarette an, sie werden mir während der Sitzung ausgehen. Die Minuten verrannen ergebnislos. Hätte Leskov kommen können, so wäre das Problem nur halb so groß. Er mußte aufpassen, daß er sich durch sein Taktieren nicht verriet.
    Als er zum Koffer hinüberging, um sich einen Pullover zu holen, sah er sich in dem hohen Wandspiegel, in derselben Hose und demselben Hemd wie gestern nachmittag. Er blieb einen Moment still stehen, dann begann er sich mit hektischen Bewegungen umzuziehen. Mittendrin spürte er, wie eine wütende Scham über seine Unsicherheit in ihm aufstieg. Gegen Tränen des Zorns ankämpfend schlüpfte er wieder in die Kleider von vorhin, legte sich den Pullover über die Schultern und ging mit den Schreibsachen unter dem Arm zur Tür. Bevor er sie zuzog, sah er auf dem Teppich einen abgerissenen Knopf des frischen Hemds liegen, das auf dem zerwühlten Bett lag. Als er, froh über den ausbleibenden Schmerz im Knöchel, auf dem purpurnen Läufer die breite Treppe hinuntereilte, war es zwei Minuten nach neun.
    Die anderen waren alle schon da und hatten Schreibblöcke sowie Manuskripte vor sich liegen. Einzig Silvestri hatte außer einer unordentlich gefalteten Zeitung nichts mit. Für Perlmann war es unmöglich, sich nicht vorne hinzusetzen; es hätte wie eine lächerliche Weigerung aussehen müssen, die dem geschnitzten Sessel eine viel zu große, fast magische Bedeutung verlieh. So setzte er sich denn nach einem kurzen Zögern, das nur er selbst innerlich wahrzunehmen vermochte, an die Stirnseite. Durch die Fenster auf der anderen Seite des Raumes konnte er das blaue Schwimmbecken sehen, und dahinter, jenseits der Hotelterrasse, die obere Hälfte einer Tankstellenanlage. Die Sonnenschirme waren um diese Tageszeit noch nicht aufgespannt, die Liegestühle noch leer. Nur der rothaarige Mann von gestern war bereits dort und klopfte mit der Hand den Takt der Musik, die aus dem Kopfhörer kam, aufs angezogene Knie.
    Die Begrüßungsfloskeln und auch sonst alle einleitenden Worte blieben Perlmann im Hals stecken. Er wolle gleich zur Sache kommen, sagte er, und begann sofort damit, seinen Vorschlag zum zeitlichen Ablauf der Arbeit zu erläutern. Beim Reden wurde er sicherer; was er sagte, klang routiniert und durchdacht. Dann ging er zur Tafel und malte die fünf Spalten auf. Die zweite Hälfte der laufenden und die erste Hälfte der vierten Woche ließ er leer. In gebückter Haltung und mit etwas steifen Buchstaben schrieb er seinen Namen neben den Donnerstag und Freitag der letzten Woche, legte die Kreide

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