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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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schlanken Fingern. Un po’ strava gante hatte Angelini ihn genannt. Als er jetzt mit einer weichen, aber trotz starkem Akzent sehr sicheren Stimme zu sprechen begann, bewegte sich seine weiße Hand mit der Zigarette unablässig, bekräftigte gewisse Dinge, zog andere in Zweifel oder ließ sie vage erscheinen. Wenn man schizophrenen Patienten zuhöre, sagte er, würden die gewohnten Erwartungen, was Stimmigkeit anlange, enttäuscht. Die Bedeutungsverschiebungen und gedanklichen Unstimmigkeiten gehorchten aber einer Logik, es herrsche keineswegs einfach Chaos. Er wolle seine Zeit hier nutzen, um das gesammelte klinische Material zu dieser These zusammenzuschreiben. Er bitte um einen späten Termin, denn wegen der vielen Arbeit in der Klinik sei er in Verzug geraten.
    Perlmann griff zur Kreide. Er hat einen handfesten Grund, ich nicht. Und es wäre eine Frage des Anstands, ihm den letzten Termin anzubieten. Aber dann blieben mir nicht einmal mehr volle drei Wochen, das ist ganz ausgeschlossen. Er notierte Silvestris Namen für Donnerstag und Freitag der vierten Woche. Noch bevor er sich wieder den anderen zuwandte, spürte er, wie Brian Millars Blick auf ihm ruhte. Wieder hatte der Amerikaner die Arme verschränkt und hielt den Kopf geneigt. Seine schmalen Lippen zuckten, und Perlmann war sicher, daß die Frage jetzt gleich kommen würde. Er hätte sich nachher ohrfeigen können, daß er sie nicht wenigstens abgewartet hatte.
    «Natürlich können Sie auch die beiden letzten Tage nehmen», sagte er zu Silvestri und zeichnete einen Pfeil hinüber in die fünfte Woche.
    «Ich möchte es offenlassen, wenn das geht», sagte Silvestri.
    Also muβ ich mich zur Sicherheit auf den Donnerstag der vierten Woche einstellen. Spätestens am Dienstag vorher müssen die anderen meinen Text bekommen. Das heißt, es bleiben mir genau zwanzig Tage. Perlmann steckte eine Zigarette zwischen die Lippen, als er sich gesetzt hatte. Erschrocken sah er seine Hand mit dem Streichholz zittern, stützte sofort den Arm auf und hielt das Handgelenk mit der anderen Hand fest.
    Achim Ruge, der als nächster an der Reihe war, zog ein riesiges, rot-weiß kariertes Taschentuch hervor, entfaltete es umständlich, nahm dann die Brille ab und schneuzte sich laut und ausführlich. Das brachte Perlmann schlagartig das Zimmerproblem zu Bewußtsein. Der Gedanke daran war das letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, er schob ihn mit Macht beiseite, spürte aber, wie eine zusätzliche Beklemmung in ihm aufstieg. Ruge zog die Jacke aus und saß nun in seinem schlecht geschnittenen Hemd da, mit Gummibändern an den Oberarmen, um die Ärmel zu verkürzen. Bieder, er ist der biederste Mensch, den ich kenne. Und rechtschaffen ist er, rechtschaffen bis in die Knochen. Vielleicht ist es gar nicht wahr, daβ ich Millar und von Levetzov am meisten zu fürchten habe, vielleicht ist dieser Achim Ruge wegen seiner Biederkeit, seiner Rechtschaffenheit noch viel gefährlicher. Es war nicht undenkbar, dachte Perlmann, daß von Levetzov sich für eine Weile aus der Wissenschaft davonschliche, wegen einer Frau beispielsweise oder einer Spielleidenschaft. Gerüchte waren ja nie ganz zufällig. Dementsprechend würde sein Urteil über ihn milde ausfallen, zumindest wäre es von einer gewissen Nachdenklichkeit begleitet. Und bei Millar, da gab es zwar auch Rechtschaffenheit, aber es war diese sportliche Rechtschaffenheit eines Amerikaners, die auch einmal aus den Fugen geraten konnte. Etwa wenn es um Sheila ging. Bei Ruge dagegen, der nur sein Labor und seine Computer kannte, war so etwas unvorstellbar, und deshalb wäre sein Urteil erbarmungslos, vernichtend.
    Perlmann versuchte sich durch Verachtung zu schützen, er starrte auf die Gummibänder und tat alles, um Ruge als einen Spießbürger zu sehen, über den man nur lachen konnte. Dabei kam ihm dessen schauderhafte schwäbische Aussprache des Englischen zu Hilfe, die sich wie eine Karikatur anhörte. Ganz automatisch erwartete er, daß Ruge Fehler am laufenden Band machen würde. Aber das geschah nicht. Im Gegenteil, Ruge beherrschte das Englische perfekt und benutzte Wörter und Wendungen, die Perlmann zwar verstand, die ihm aktiv jedoch nicht zur Verfügung standen. Die mühsam aufgebaute Verachtung geriet ins Wanken, Ruges Gegenwart erschien jetzt noch bedrohlicher als vorher, und wieder nahm Perlmann die Hände zu Hilfe, um vor seinen Augen einen Schutz zu errichten.
    Bevor sie zu sprechen begann, setzte Evelyn Mistral eine

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